In der Halbzeit

Hannes Stöhrs Episodenfilm „One Day in Europe“ bietet viel schnuckeliges Nationentum rund um ein Fußballspiel

Vielleicht ist Europa ja nur ein einziges großes Medienereignis. So wie der Eurovision Song Contest. Oder das Finale der Fußball-Champions-League. Nehmen wir mal an, in Moskau spielte Galatasaray Istanbul gegen Deportivo La Coruña. So wie das Hannes Stöhr in „One Day in Europe“ macht. Dann sitzen im dortigen Zentralstadion gerade mal 80.000 Menschen, rot-gelb die einen, blau-weiß die anderen. Die übrigen aber hocken über den ganzen Kontinent verstreut vor den Bildschirmen. Oder haben im Moment ganz andere Probleme, weil sie zum Beispiel gerade ausgeraubt wurden. Die haben nun eigentlich mit Europa gar nichts mehr zu tun. Es sei denn, sie wendeten sich hilfesuchend an die Polizei, die aber gerade lieber Fußball guckt.

So geschieht es in diesem Film, und zwar viermal und an vier verschiedenen Spielorten. Jedes Mal greift das Medienereignis in den Handlungsablauf ein. Jedes Mal ist von einer europäischen Einigung – vor allem einer europäischen Sprache – herzlich wenig zu spüren.

Da ist die Business-Britin, der in Moskau das Gepäck geklaut wird. Die Polizei, wie gesagt, schaut nur Fußball. Außerdem versteht sowieso niemand das Wort des anderen, die Meldeformulare gibt es nur auf Russisch. Derweil kommt ein deutscher Tourist in Istanbul ziemlich ins Schwitzen. Der Kommissar lässt ihn schmoren, erstens wegen Galatasaray, zweitens weil er der Touristenstory vom großen Überfall nicht traut – zu Recht. Der ungarische Pilger in Santiago de Compostela hingegen hat allen Grund zur Klage. Kamera weg, und mit ihr hunderte sorgsam abfotografierte Stätten seiner heiligen Wanderschaft.

Wenn die Polizei einmal ihren Pflichten nachkommt, dann ist das in Deutschland und auch wieder nicht gut. Ein abgebranntes französisches Pärchen will sich beklauen lassen, zumindest virtuell, entweder von Nazis in den Berliner Banlieues oder von Kreuzberger Türken. Doch leider erweisen sich die Medienberichte als Übertreibung, und dann spricht die Wachtmeisterin auch noch fließend Französisch. In Europa funktioniert wirklich überhaupt nichts.

Aber so setzt es sich zusammen, nach und nach, aus einem Bündel von Klischees und dem Versuch ihrer Widerlegung. Die Angst vor Kriminalität und Bürokratie bilden die Realität. Der selbstverständliche Einbezug der Türkei und Russlands die Utopie.

Hier hat Hannes Stöhr, der „Europa von den Polen her“ definieren will, auch seine schönsten Figuren gefunden: Die Britin, der man das westliche Überlegenheitsgefühl an der Nasenspitze ansieht, erhält Unterstützung durch ihr östliches Gegenteil. Elena (Luidmila Tsvetkova) verkörpert das Ideal der russischen Mutter, herzlich, hilfsbereit und erfahren im Umgang mit allmächtigen Behörden: „Das ist Russland!“ Der blonde Deutsche namens Rokko (Florian Lukas) hingegen gerät an den Taxifahrer Celal (Erdal Yildiz). Der würde niemals glauben, dass sich einer eine Geschichte ausdenkt, um seine Versicherung zu schröpfen. Er will die Diebe gleich selbst fangen und verkündet das in einem brachialen Schwäbisch, wie man es im Kino nie wieder hören wird.

Ausgedacht und konstruiert hat auch Stöhr. Wobei das Rezept, Vorurteile an einer Baustelle auf- und an der anderen wieder abzubauen, am Ende doch reichlich affirmativ wirkt. Klischees kann man übertreiben oder weglassen. Wer sie in Umlauf bringt und relativiert, wird bestraft. Der Preis ist kein Nationalismus und auch nicht sein Gegenteil, sondern ein heimeliges Nationentum, zu dem die schnuckeligen Flugzeuganimationen von Jim Avignon, die die einzelnen Episoden verbinden, hervorragend passen. Viermal Europa und zurück.

Das kann man provinziell und (warum nicht mal selbst in die Klischeekiste greifen?) sehr deutsch finden. Ebenso könnte man den Vergleich zu Jim Jarmuschs „Night on Earth“ ziehen, in dem das alles so viel souveräner gehandhabt wird.

Es wäre aber auch ungerecht gegenüber Stöhrs gesamteuropäischem Medienereignis, das er mit großem logistischen Aufwand in Szene gesetzt hat. Dass er Charaktere sorgsamer zeichnen kann, wenn er die Zeit dafür hat, hat er mit „Berlin is in Germany“ bereits bewiesen.

„One Day in Europe“ ist ein Film, den man für seine Details schätzt. Stöhr gleicht seinen spanischen Polizisten, die mit ihren Überwachungskameras keine Diebstähle, sondern hübsche Frauen aufnehmen. Die sind wichtig, Fußball ist auch wichtig, das Drumherum muss halt irgendwie zusammenfinden, zur Not mit Untertiteln. Schließlich sind wir auf dem Weg nach Europa gerade mal in der Halbzeit.

PHILIPP BÜHLER