Rauschgoldengel im Barockhimmel

Bayerischer geht‘s nimmer: In Münchner Volkstheater wird der Dauerbrenner „Brandner Kasper“ neu aufgelegt

Kommt ein Preuße in den Himmel. Stellen sich die Putten geschlossen vor die Tür und drücken von innen dagegen. Und sie haben ja Recht: Erstens haben die „Saupreißn“ einen Himmel für sich. Und zweitens ist dieses spezielle Exemplar in Sachen Süderweiterung unterwegs: Will Potsdam an die Zugspitze und Neustrelitz an den Tegernsee verlegen. Der erste Schritt dahin führt über eine kleine Berghütte, die Urenkel Kai-Uwe eigentlich längst schon kaufen wollte. Die aber ist noch immer vom Vorgänger besetzt, der einfach nicht stirbt: Der Brandner Kasper hat eben seinen 75. gefeiert.

„Der Brandner Kasper und das ewig’ Leben“, Kurt Wilhelms szenische Fortschreibung einer Erzählung seines Urgroßonkels Franz von Kobell (1803–1882), hatte 1975 am Bayerischen Staatsschauspiel Premiere und lief dort ohne Unterlass fast 30 Jahre lang. Ob bayerisches Welttheater oder ein aufgeblähter „Semmelschmarrn“, wie seinerzeit ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung schrieb, die Zuschauer und die Busladungen voller Schüler und Touristen kümmerten sich wenig um solch feine Unterscheidungen.

Zirka 1.000 Mal wollten sie den Brandner Kasper wildern und „karteln“ sehen, den Boandlkramer (so heißt der alpenländische Kollege vom „Freund Hein“) greinen und buckeln – und die angestaubten Rauschgoldengel unter weiß-blauem Barockhimmel für echte Paradiesvögel halten. An die zehntausend Liter Bier und mehrere tausend Weißwürste wurden derweil auf der Bühne verkostet. „Bayerischer“ geht’s ja wohl nicht.

Dass sich nun Christian Stückl einer Neuinszenierung angenommen hat, wurde bei der Premiere im Münchner Volkstheater mit Begeisterung quittiert. Der Oberammergauer „Passionsspiel“-Leiter ist ja auch der rechte Mann für opulente, christlich-katholische Stoffe mit Tradition und hat zuletzt sogar den Salzburger „Jedermann“ entschlackt. Beim „Brandner Kasper“ jedoch muss ihm auf halber Strecke die Puste ausgegangen sein.

Man merkt es der dreieinhalbstündigen Kneipen-, Jagd- und Himmelsposse nicht an, was schon alles klug gestrichen wurde. (Und auch optisch geht es fast schon spartanisch zu.) Denn es kommen gleich neue Späße und Spaßetteln dazu – da wird vieles eigentlich Schöne so lange gezeigt und gespreizt, bis man es nicht mehr leiden mag: zum Beispiel den urwüchsigen Charme der „Jungen Riederinger Musikanten“ als Engel und als sie selbst, die inzwischen in kaum einer Stückl-Inszenierung fehlen. Da hieße es jetzt mal: Einsatz zurückfahren! Haushalten! Schützen!

Doch nun das Erfreuliche: Alexander Duda spielt den Brandner nicht als harmlosen Opi, sondern als agilen, alterslosen Burschen, der sich um Gesetz und Machtverhältnisse wenig schert. Um seine Enkelin Marei aber sehr wohl. Als die der Boandlkramer abholt, ist etwas in ihm in Stücke gebrochen.

Toni Berger, der Boandlkramer des Staatsschauspiels bis zuletzt, ist vor kurzem 83-jährig gestorben. Seine verdruckste, fistelnde Personifikation des Todes hat selbst die härtesten Kritiker begeistert. Maximilian Brückner („Männer wie wir“) ist ihm ein würdiger Nachfolger und trotz vortrefflichstem Mundart-Mundwerk wohl auch nicht in Gefahr, in der Komödienstadel-Schublade zu enden.

Brückner spielt einen erstaunlich jungen Tod ohne den platten Eros von Brad Pitt: zahnlückig, barfuß und zerrupft, ein aufgedrehtes Rumpelstilzchen mit wenigen schwarzen Strähnen auf dem Kopf – aber auch eine Spielernatur, verführbar und verführerisch: ein grausiger Schelm. Seine Fahrt auf der Totenkutsche, mit dem galoppierenden Pappmachépferd und der sanft ächzenden Bühnenmaschinerie, ist ein wunderbarer Budenzauber. Für ein weiteres fast-ewiges Bühnenleben sollte das reichen.

SABINE LEUCHT