Verfälschen oder vergessen

AUS PEKING GEORG BLUME

Er hat Jeans und Turnschuhe angezogen, nicht die übliche Bürokleidung. Wang Jinsi will demonstrieren gehen. Normalerweise arbeitet der 31-jährige Versicherungsexperte in einer Pekinger Werbeagentur – ein eher belangloser Job. Wang hat auf diesen Samstag lange gewartet, er verspricht ihm Belohnung für jahrelange Aufbauarbeit. Er gehört zu dem kleinen Kreis Pekinger Internet-Aktivisten, die seit Jahren für einen neuen Umgang mit der chinesischen Geschichte streiten. Auf seiner Website www.wwgc.cc hat er schon eine halbe Million Unterschriften gesammelt – für die Einführung von zwei offiziellen Gedenktagen: am 18. September, dem Tag des chinesisch-japanischen Kriegsbeginns im Jahr 1931, und am 15. August, dem Tag der japanischen Kapitulation im Jahr 1945.

Auf der ganzen Welt gedenke man der Opfer des Zweiten Weltkrieges, sagt Wang, nur in China nicht. Nur einmal, zum 50. Jahrestag der Kapitulation im August 1995, habe der damalige chinesische Präsident Jiang Zemin eine Rede gehalten. Ansonsten hüllten sich die Kommunisten seit 60 Jahren in Schweigen. Sie könnten nicht eingestehen, dass in erster Linie nicht sie, sondern die Nationalisten unter der Kuomintang-Regierung den Weltkrieg geführt hätten.

Aufruf zum Japan-Boykott

„In Deutschland gedenkt man sogar des 27. Januars, der Befreiung von Auschwitz“, sagt Wang. Er ist Mitglied der Historikergesellschaft zur Erforschung des antijapanischen Krieges. Er will, dass auch China des Zweiten Weltkriegs gedenkt. Deshalb nimmt er ein Taxi in Richtung Pekinger Universitätsbezirk. Bald erreicht er die Demonstranten.

„Boykottiert japanische Produkte!“, schallt es aus der Menge. Wang ist gegen solch einen Boykott. Denn der lasse vernachlässigen, dass sich Japan nach dem Zweiten Weltkrieg modernisiert habe, während China seine Zeit mit Klassenkampf vergeudet habe. Japan solle sich heute ein Beispiel an Deutschland nehmen, das seine Vergangenheit kritisch aufgearbeitet habe. Aber auch China könne lernen: etwa von Israel, das auf vielfältigste Weise der schrecklichen Kriegsgeschichte der Juden gedenke. Mit solchen Gedanken ist Wang unter den Demonstranten aber eindeutig in der Minderheit.

Es ist die größte öffentliche Protestkundgebung in Peking seit 1999. Damals richteten sich die Demonstrationen gegen die amerikanische Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad während des Jugoslawienkrieges im Jahr 1999. Anlass diesmal sind die jüngsten Ausgaben japanischer Schulgeschichtsbücher, die auch die chinesische Regierung heftig protestieren ließen (siehe Kasten).

Zwischen zehn- und zwanzigtausend meist jugendliche Demonstranten ziehen durch die Stadt. „Nieder mit dem japanischen Militär!“, „Kampf dem japanischen Faschismus!“, verkünden ihre Transparente. Viele haben sich ein weißes Tuch um die Stirn gebunden, auf dem „Gegen Japan“ steht. Mit dabei sind drei Studenten der Elektrotechnik von der Beihang-Universität. Sie tragen lässige Jeans, darüber bunte Fleece-Pullis und moderne Frisuren, die ihre Haare ins Gesicht fallen lassen. Einer von ihnen nennt seinen englischen Namen: Cole. Cole glaubt, dass sich China vereinen müsse, um Druck auf Japan zu machen. Japan werde begreifen müssen, dass die Chinesen keine Feiglinge sind. Cole spricht vom Pioniergeist seiner Generation. Die werde China wieder reich und stark machen. Und sie habe ihre Pflicht erkannt, der Welt Chinas Meinung zu sagen. Cole gerät ins Schwärmen: „Solange wir nicht die Regierung angreifen, ist das Demonstrieren kein Problem“, erfreut er sich der Versammlungsfreiheit an diesem Tag.

Erst Rufe, dann Steine

In Wirklichkeit aber hat es das noch nie gegeben: Pekinger Polizisten, die einen unangemeldeten, über das Internet und SMS organisierten Demonstrationszug durch das Verkehrschaos der Hauptstadt leiten. Und die auch dann nicht eingreifen, als die Demonstranten am Abend gewalttätig werden.

Zunächst fliegen Steine auf japanische Autos und Restaurants am Straßenrand. Passanten spenden Beifall, aus den Fenstern winken die Leute mit chinesischen Fahnen, eine alte Frau weint, ein Ausländer, der die Demonstranten beschimpft, bezieht Prügel. So geht es bis vor die Residenz des japanischen Botschafters. Dort bildet die Polizei einen Sicherheitsgürtel. Einige Demonstranten klettern auf Bäume, um von dort besser werfen zu können. Bald klirren die ersten Fensterscheiben. Bis tief in die Nacht dauern die Proteste an. Am nächsten Morgen geht es weiter: In den boomenden Metropolen Südchinas versammeln sich erneut zehntausende, um vor dem japanischen Konsulat in Guangzhou und einem japanischen Kaufhaus in Shenzhen zu demonstrieren.

Dabei geht es offensichtlich um mehr als japanische Geschichtsbücher. Ohne eine weit verbreitete antijapanische Grundstimmung wären die Proteste undenkbar. Eine Kampagne gegen Japans ständige Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat erhielt innerhalb der letzten Wochen nach Auskunft der Organisatoren 30 Millionen Unterschriften. Warum?

Japans Botschafter in Peking, Koreshige Anami, führt den Protest auf die „patriotische Erziehung“ an Chinas Schulen zurück. Seit Anfang der Neunzigerjahre habe Peking die nationalistischen Elemente im Schulunterricht verstärkt, weil der Kommunismus als Wertesystem hinfällig geworden wäre. Anami kritisiert, dass in China von Japans friedlicher Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg weder in den Schule noch in den Medien je die Rede gewesen sei.

„Chinas Medien sind hetzerisch“

Der Internet-Aktivist Wang Jinsi kann dem ohne weiteres zustimmen. Man berichte in China nur über Japans negative Seiten und verzerre die historische Wahrheit ständig. In pseudo-dokumentarischen Filmen überwältigten chinesische Kinder mit Holzpistolen japanische Soldaten. „Chinas Medien sind hetzerisch und verbreiten Hass auf Japan“, kritisiert Wang. Trotzdem harrt er bis zum späten Abend unter den Demonstranten vor der Residenz Anamis aus. Außer dem Protest gegen Japan gibt es für ihn derzeit keinen zweiten, erlaubten Weg, einer anderen Geschichtsauffassung als der kommunistischen öffentlich Gehör zu verschaffen.

Doch auch diese Freiheit wird nicht lange währen. Wang ahnt: In den Protest könnten sich schnell andere Töne mischen: gegen die Korruption daheim, für eine aggressivere Politik nach außen. Das will Peking nicht. Gleich gestern sprach der chinesische Vize-Außenminister eine offizielle Entschuldigung gegenüber dem japanischen Botschafter aus: Die Regierung habe nicht hinter den Demonstranten gestanden, man habe die Demonstranten aufgefordert, „exzessive Aktionen“ zu vermeiden. Allerdings: Man habe Verständnis für den Ärger der Menschen.

Wang glaubt nicht daran, dass die Aktionen weitergehen. Die Chinesen seien heute ein unpolitisches Volk. Auch bei voller Demonstrationsfreiheit wären am Samstag keine Millionen zu mobilisieren gewesen. Eine ihm bekannte Website trägt den Namen „Warum haben wir die Geschichte vergessen?“. Vielleicht beginnen die Chinesen gerade erst, ihrer Vergangenheit zu gedenken.

Mitarbeit: Christine Käthler