Das Massaker von Aschendorfermoor

Heute vor 60 Jahren: Mit Massenerschießungen unter den Gefangenen der Emslandlager befriedigt der selbst ernannte Hauptmann Willi Herold seinen Sadismus. Erst die Hilfe von Parteifunktionären, Verwaltung, Wachleuten und Zivilpersonen ermöglichen dieses Verbrechen eines Einzelnen

von Doro Wiese

Als im März 1945 die alliierten Truppen immer näher rückten, löste das in den Emslandlagern eine Kette brutaler Ereignisse aus. Denn die Zentralverwaltung hatte beschlossen, einen Teil ihrer Gefangenen aus den Lagern zu evakuieren. Dieser Plan scheiterte jedoch an der körperlichen Schwäche der Gefangenen, die den Fußmarsch nicht schafften und so nach Aschendorfermoor zurückbeordert wurden. Auf dem Rückweg gelang es nun rund 150 Gefangenen, im dichten Nebel die Flucht zu ergreifen.

Alarmiert von den eingehenden Beschwerden über Diebstähle und Plünderungen seitens der Zivilbevölkerung beschloss der Beauftragte des Reichsjustizministeriums für die Strafgefangenenlager im Emsland, Richard Thiel, drakonische Maßnahmen einzuleiten, sollten die Entflohenen aufgespürt werden: „Ich war der Meinung, dass unter den gegebenen Umständen, wo die Front nur noch wenige Kilometer entfernt war, die Zivilbevölkerung unbedingt geschützt und ihre Moral aufrechterhalten werden musste, was nur durch strenge und gerechte Bestrafung zu erreichen war“, gab Thiel später zu Protokoll. Als probates Mittel fiel ihm das „Standgericht“ ein, eine von Hitler ins Leben gerufene Institution, die in „Zeiten des nationalen Notstands“ Verwendung finden sollte.

Allerdings musste selbst ein Standgericht aus einem Offizier der Wehrmacht oder der Polizei, einem Strafrichter und einem Staatsanwalt als Anklagevertreter zusammengesetzt sein – eine Auflage, die Thiel nicht erfüllen konnte. Denn der zuständige Generalstaatsanwalt in Oldenburg hatte sein Ersuchen, ein Standgericht zu bilden, bereits mehrfach mit der Begründung abgewiesen, das Verfahren sei zu langwierig. Thiel, der schnell und exemplarisch durchgreifen wollte, ließ nun durchblicken, er gedenke, durch die Gestapo andere Maßnahmen einzuleiten.

In dieser Situation wurde Thiel von Karl Schütte, Führer der Wacheinheit des Lagers II im Aschendorfermoor und Mitglied der NSDAP, sowie zwei Mitgliedern der Wehrmacht aufgesucht. Schütte stellte ihm die beiden Männer – den vermeintlichen Hauptmann Willi Herold und den Gefreiten Reinhard Freitag – vor und behauptete, Herold habe eine uneingeschränkte Vollmacht „vom Führer“, die entflohenen Sträflinge, die geplündert hätten, zu exekutieren. Thiel kam diese Lösung wie gerufen. Er sicherte sich bei der Gestapo in Emden für die „Rechtmäßigkeit“ dieser Aktion ab. Dann gab er an den Lagervorsteher Hansen die Information weiter, dass Hauptmann Herold anstelle eines Standgerichtes in Aktion trete.

Die Gestapo in Emden hatte wiederum auf Betreiben des NSDAP-Kreisleiters Gerhard Buscher die Aktion bewilligt. Später behauptete der Angeklagte Freitag, Buscher habe sich von ihnen mit den Worten „Hals- und Beinbruch, die Leute hätte man schon lange umlegen müssen!“ verabschiedet. Hauptmann Herold begann seine Arbeit noch am selben Tag. Schon vor der Unterredung mit Thiel hatte er bereits mehrere Gefangene nach ihrem „Geständnis“ von dem Gefreiten Freitag durch Kopf- oder Genickschuss „liquidieren“ lassen, wie er sich auszudrücken pflegte.

Auch hatte er vor seiner Unterredung mit Thiel veranlasst, dass unmittelbar hinter dem Stacheldraht, gegenüber der Baracke 7, eine sieben Meter lange, zwei Meter breite und 1,80 Meter tiefe Grube ausgehoben wurde. Um 18 Uhr des 12. Aprils ließ er nun 30 Strafgefangene in Zweierreihen vor diese Grube treten, und eröffnete mit einem 2-cm-Flakgeschütz das Feuer, assistiert von einer Anzahl von Männern des Lagerpersonals und der Volkssturm-Wachposten unter der Führung von Schütte und dem Wachmann Bernhard Meyer. Da das Geschütz ungenau traf und wenig später eine Ladehemmung hatte, teilte Herold den Befehl aus, mit Handfeuerwaffen weiterzuschießen.

Seine Mannschaft rückte vor, unbeeindruckt von den Gnadenrufen der Gefangenen und schoss sie sämtlich nieder. Anschließend warf die Truppe Handgranaten in die Grube, um sicherzustellen, dass niemand überlebt hatte.

Dieser Vorgang wiederholte sich zweimal, bis 98 Gefangene getötet worden waren oder kein Lebenszeichen mehr von sich gaben. Ein Grabungskommando wurde angewiesen, die Grube zuzuschaufeln, da die Truppe sich nun zurückziehe. Als sie sich weigerten, schaufelte das Wachpersonal selbst Erde und Chlorkalk auf die Leichen und zog sich dann zurück.

Damit war das Blutvergießen jedoch bei weitem nicht zu Ende. Am nächsten Tag wurde Wachmann Bernhard Meyer mit einigen Männern abgestellt, die Suche nach jenen Entflohenen fortzusetzen, die immer noch auf freiem Fuß waren. Als Treffpunkt der ausschwärmenden Suchtruppe wurde das Gasthaus Cordes in Burlage ausgemacht. Am Abend waren acht Häftlinge aufgegriffen worden, für die Herold den Befehl erteilte, sie binnen einer Stunde „gleichzuschalten“, das heißt, sie zu erschießen.

Die Wirtshausgäste meinten – wie sie später aussagten –, der Suchtrupp solle „es gefälligst nicht auf dem Grundstück der Kneipe erledigen, sondern weiter weg im Wald“. So ließ Wachmann Meyer die Aufgespürten in Socken zu ihrer Hinrichtungsstelle laufen. Er habe die Schuhe für die Armen gebraucht, gab er später zu Protokoll. Die Gefangenen mussten ihr eigenes Grab schaufeln und wurden dann dort erschossen und verscharrt. Auch in den nächsten Tagen kam es zu weiteren Erschießungen.

Aufgespürte Entflohene und unliebsame Gefangene wurden ohne jede Verhaftung liquidiert, Häftlingsbaracken nach Ausländern und so genannten „Wehrkraftzersetzern“ durchkämmt, die ebenfalls erschossen wurden. Weder die Verwaltung noch der NSDAP-Kreisverband boten dem Treiben ein Ende, obwohl sie von den Liquidierungen informiert waren. Erst ein alliierter Luftangriff am 19. April 1945, bei dem nochmals zahlreiche Häftlinge ums Leben kamen, konnte die Massenerschießungen stoppen.

Hauptmann Herold jedoch zog mit seiner Truppe weiter, die er durch in den Soldatenstand erhobene Häftlinge vergrößert hatte. In Aschendorf henkte er den Bauern Spark, der eine weiße Fahne an seinem Hof aufgehängt hatte, und ließ sich dann im Gasthof Schützengarten in Leer nieder. Dort ließ er sich noch fünf holländische Gefangene, angeblich Spione, vom Polizeirevier in Leer ausliefern und diese von seinen Männern liquidieren.

Erst die heranrückende Front machte seinem Treiben ein Ende. Er zog weiter in Richtung Aurich, wo er vom Standortkommandanten Otto Hübner aufgegriffen und zum Verhör bestellt wurde. Dort stellte sich heraus, dass Herold sich fälschlich als Hauptmann ausgegeben hatte. Der einfache Gefreite hatte nach Verlust seiner Truppe eine Offiziersuniform in einem leerstehenden Auto gefunden und sie sich angeeignet, wie er gestand. Auch die Massenerschießungen im Lager und die weiteren Morde berichtete er.

Auf Betreiben des SS-Untersturmführers Urbanek, der von Herolds schneidigem Auftreten beeindruckt war, wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt, bis ihn die britische Justiz kurz nach Kriegsende erneut dingfest machte. Sie reagierte damit auf zirkulierende Gerüchte über die Ereignisse rund um Aschendorf: Per Zufall wurde Herold schließlich ausfindig gemacht. Am 29. August 1946 wurde er von einem britischen Militärgericht in Oldenburg für schuldig befunden, zum Tode verurteilt. Hingerichtet wurde er gemeinsam mit sechs Mitgliedern seiner – längst zerstreuten und teilweise nicht mehr auffindbaren – „Truppe“.

Der Verteidiger Herolds wies in seinem Schlussplädoyer darauf hin, dass Herold ohne die Mithilfe von Parteifunktionären und Staatsdienern seine Taten niemals hätte begehen können. Aber ermöglichten nur diese ein Verbrechen dieses Ausmaßes?

Herold hat bei seinen Taten zahlreiche Mithelfer gefunden, auf Polizeidienststellen, bei einfachen Wachleuten und auch bei Zivilpersonen, wie etwa jenen Besucher des Gasthauses Cordes, die weder gegen die Erschießungen Einspruch erhoben noch die Verbrechen später anzeigten. Die Gefangenen waren für sämtliche Beteiligten „nicht der Rede wert“: Sie hatten in ihren Augen offenbar keinen Anspruch auf ein Gerichtsverfahren oder auch nur ihr eigenes Leben.

Quellen dieser Darstellung sind insbesondere der Bericht von Major T.X.H. Pantcheff „Der Henker vom Emsland“ und Zeugenaussagen aus dem Film „Der Hauptmann von Muffrika“ von Paul Meyer und Rudolf Kersting, sowie verschiedene Quellen-Bände des Dokumentations und Informationszentrums Emslandlager (DIZ) in Papenburg. Den Film „Der Hauptmann von Muffrika“ zeigt das DIZ heute im Ems-Center Kino, Papenburg um 16 und 20 Uhr. Infos: www.diz-emslandlager.de und www.absolutmedien.de/muffrika.