theorie und technik
: Die Papstbeerdigung und die Folgen: Ist die Geständnisfreudigkeit vom Sex auf die Religion übergegangen?

Wie Foucault analysierte, galt das körperliche Begehren als unser innerster Kern. Scheint so, als würde das metaphysische Begehren ihm den Rang ablaufen

Seit dem Ableben des Papstes sehen wir uns mit einem erstaunlichen Phänomen konfrontiert: dem öffentlichen Gestehen von religiösen Überzeugungen. Wir finden solche Bekenntnisse nicht nur an den einschlägigen, sondern auch an den unerwartetsten Orten: Der linke Redakteur beichtet ebenso öffentlich seinen Glauben wie die junge polnische Literatin. Staunenden Auges lesen wir etwa: „Und auch wenn wir vor ein paar Monaten den Priester, der uns zur Seelsorge besuchte, noch zu überzeugen suchten, er solle doch allein beten, wir täten so etwas eher nicht, knieten wir gestern Nacht beide in der nahe gelegenen Kirche, ich als Konfessionslose und mein Freund, der Buddhist – ein großes, seltsam schönes Erlebnis, als wir dort […] beteten.“ Eine regelrechte religiöse Inkontinenz greift um sich. Unklar ist, ob diese Flut bislang nur zurückgehalten wurde oder ob sie nun erst entstanden ist. Die Menschheit, auch viele Atheisten, erlebe in diesen Tagen „einen ihrer gläubigsten Momente“, so Bernd Ulrich in der Zeit. Man mag dem zustimmen oder nicht – in jedem Fall hat das päpstliche Sterben einen erstaunlichen Geständniszwang ausgelöst.

Damit vollzieht sich eine signifikante und paradoxe Verschiebung. Bei Michel Foucault, der den Geständniszwang ausführlich analysiert hat, findet sich dieser bezeichnenderweise in Band I von „Sexualität und Wahrheit“. Er gehört zum abendländischen „Regime der Lüste“.

Foucault hat ihn vor allem gegen die so genannte Repressionshypothese ins Treffen geführt, die die Sexualität von Unterdrückung und Schweigegebot befreien wollte. Für Foucault stand die Sexualität vielmehr in einer strategischen Anordnung, einem Dispositiv, das darauf aus war, uns zum Sprechen zu bringen: Man sollte immer mehr von ihr berichten. Der Sex ist zu einer „Sache des Sagens“ geworden. Es gab – seit dem Mittelalter – geradezu einen „Imperativ, aus seinem Begehren, aus seinem gesamten Begehren einen Diskurs zu machen“. Und diese Diskursivierung des Sex hat in erster Linie die Religion unternommen. Es war, so Foucault, die christliche Pastorale, die den Sex zum Gegenstand des Geständnisses par excellence machte, und es war eben diese Pastorale, die ihn in die Rolle des beunruhigenden Geheimnisses versetzte. Der Sex als Geheimnis gehöre zur „Mechanik der Anreize“, so Foucault, eine Art der „Redeaufforderung“. Er war also nicht das, was man verbirgt, sondern das, was man in ganz besonderer Weise gesteht.

In unserem heutigen Öffentlichkeitsdispositiv kommt dem Reden über Sexualität schon lange keine enthüllende Funktion mehr zu. Die Sexualität ist längst nicht mehr das Geheimnis. Heute übernimmt eher die religiöse Überzeugung diese Rolle. Das metaphysische Begehren hat dem körperlichen Begehren den Rang, unser Innerstes, unser eigenster Kern zu sein, abgelaufen. Dieser hat nun einen metaphysischen Charakter und wird zu dem, was man in ganz besonderer Weise gesteht.

Früher war das Medium des Geständnisregimes im Wesentlichen die Kirche mit ihren über die Jahrhunderte ausgefeilten Beichtpraktiken. Später kam dann noch eine Reihe anderer Medien hinzu: medizinische, wissenschaftliche, literarische – in allererster Linie jedoch die Psychoanalyse. Heute jedoch haben wir die mediale Öffentlichkeit als privilegiertes Medium des Geständnisses, die Religion aber ist zu deren neuestem Inhalt geworden: Aus einem Medium des Geständnisses ist sie zu dessen „obszönstem“ Gegenstand geworden.

All diese früheren Medien hatten spezielle Modalitäten für das Geständnis vorgesehen: besondere Zuhörer (Priester, Analytiker), besondere Situationen (Beichtstuhl, Couch), besondere Beziehungen (Hirte/Schäfchen, Übertragung) – zugleich Macht-, aber auch Kanalisierungsmechanismen. In unserem Öffentlichkeitsregime fehlt all dies: Wir sind der religiösen Inkontinenz restlos ausgeliefert.

Das Diktum, die Religion sei Privatsache, blutig erkämpfte Hoffnungsformel für die Überwindung der Glaubenskriege, für ein friedliches Zusammenleben, hat nun – nach über 300 Jahren – eine erstaunliche Bedeutungsverschiebung erfahren. Hieß dies ursprünglich: Die Religion ist nicht politisch, so heißt es nun: Sie ist eine Sache der Intimität, und als solche muss sie unser Öffenlichkeitsregime zwanghaft zur Sprache bringen. Die jüngste Medieninszenierung, Auf- und Abtritt, des Papstes bilden den idealen „Anreiz“ zu einem solchen Diskurs.

Allenthalben dekretiert man die Rückkehr der Religion, und gleichzeitig bombardiert man uns mit empirischen Untersuchungen, die eindeutig belegen, in welchem Ausmaß die Zahl der Gläubigen zurückgeht. Die Kirchen sind leer, der Priesternachwuchs dürftig. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Dieser Tage verstehen wir: Das Religiöse hat einen „anderen Schauplatz“ gefunden – die mediale Öffentlichkeit. ISOLDE CHARIM

Isolde Charim und Robert Misik schreiben abwechselnd eine Theoriekolumne – üblicherweise am ersten Dienstag eines Monats, aus Papstgründen diesmal verschoben auf den zweiten Dienstag