„Woher wissen Sie, was ich denke?“

„Dass es die grüne Partei ohne Fischer nicht gibt, halte ich für schlichten Quatsch“„Ich dachte, dass es nach der Weizsäcker-Rede 1985 einen Common Sense über unsere Geschichte gäbe“

INTERVIEW JENS KÖNIG
UND LUKAS WALLRAFF

taz: Herr Fischer, erleben wir gerade das schleichende Ende von Rot-Grün oder nur den Untergang des einst beliebtesten Politikers dieser Regierung?

Joschka Fischer: Weder noch. Sie machen ja einen sehr pessimistischen Eindruck. Den teile ich ganz und gar nicht.

Der Zusammenfall von rot-grüner Krise und Fischer-Krise ist also purer Zufall?

Das müssen Sie selber analysieren. Probleme kommen und gehen. Sie sind dazu da, gemeistert zu werden. Ich will aber gar nicht drum herumreden: Die Zeiten sind alles andere als einfach, das trifft auf die Koalition genauso zu wie auf mich persönlich. Selbstverständlich haben wir zu kämpfen, und das nicht zu knapp. Es gibt jedoch keinen Grund zur Verzagtheit, im Gegenteil. Wir haben einen Wählerauftrag der ökologisch-sozialen Erneuerung dieses Landes für vier Jahre, und diesen Auftrag haben wir auch unter schwierigen Bedingungen zu erfüllen.

Ohne Fischer keine Grünen und ohne Fischer-Grüne keine rot-grüne Koalition – das ist bis heute Ihre und die Überzeugung Ihrer Partei. Bekommen Sie jetzt nicht die Quittung für diesen Glauben an die eigene Unersetzbarkeit?

Ohne Fischer keine Grünen – das habe ich niemals gesagt.

Aber das denken Sie.

Woher wissen Sie, was ich denke? Ich dachte, die taz hat einen aufklärerischen Gründungsanspruch.

Sie sind von der Bedeutung Ihrer Person überzeugt, das ist doch kein Geheimnis.

Dass es die Grünen ohne Fischer nicht gibt, halte ich für schlichten Quatsch. Außerdem sind wir gerade nach der Bundestagswahl 2002 mit dem Generationswechsel in unserer Partei ganz gut vorangekommen.

Sie haben in der Visa-Affäre zu spät reagiert, Sie haben die Fehler zunächst auf Ihre Mitarbeiter abgewälzt, und Sie haben Ihr Verbleiben im Amt selbstherrlich per Interview verkündet. Warum ist es Ihnen eigentlich so schwer gefallen, Ihr Fehlverhalten einzusehen und Verantwortung zu übernehmen?

Ich wälze Fehler nicht auf meine Mitarbeiter ab. Darauf lege ich Wert. Ich stehe zum Prinzip der Ministerverantwortung, und das ist für mich kein leerer Satz. Das heißt, dass meine Fehler und die Fehler, die gemacht worden sind, meine Fehler sind. Es fällt mir überhaupt nicht schwer, diese Verantwortung einzugestehen. Aber um die Fehler benennen zu können, musste ich zunächst einmal mir selbst den Sachverhalt und die damit zusammenhängenden Probleme klar machen. Das brauchte seine Zeit.

Worin genau bestanden Ihre Fehler?

Ich habe zu sehr darauf vertraut, dass das, was die Kohl-Regierung an Reiseerleichterungen eingeführt hatte, einfach fortgesetzt und fortentwickelt werden könne. Als in den Jahren 2000 bis 2002 vor allem in Kiew Missstände auftraten und die Zahl der Visa-Anträge so drastisch nach oben ging, hätte ich früher, entschlossener und wirksamer eingreifen müssen. Das halte ich mir selbst vor, das muss ich mir auch von anderen vorhalten lassen. Der Vorwurf jedoch, diese Missstände seien das Ergebnis des so genannten Volmer-Erlasses, trifft nicht zu. Das ist ein politischer Angriff, der in der Sache nicht gerechtfertigt ist.

Es ist bekannt, dass es seit dem Jahr 2000 etliche Hinweise darauf gab, dass die Visa-Bestimmungen missbraucht wurden. Können Sie inzwischen erklären, warum Sie diese Warnungen nicht beachtet haben?

Ich möchte hier wirklich nicht ausweichen. Aber mit Ihnen über solche Details zu reden, wäre gegenüber dem Untersuchungsausschuss unfair.

Dann allgemeiner gefragt: Warum haben Sie sich um die Visa-Fragen so lange nicht gekümmert?

Natürlich waren das sehr bewegte Jahre, das weiß gerade die taz: Kosovokrieg, der Anschlag vom 11. September 2001, Afghanistan, EU-Erweiterung.

Sie haben vor lauter Weltpolitik nicht so genau hingesehen?

Die Visa-Problematik stand nicht genug im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das soll ja keine Entschuldigung sein. Es ist der Versuch einer Erklärung. Außerdem kommt hinzu, dass ich aufgrund meiner bisherigen politischen Tätigkeit – beispielsweise als Umweltminister in Hessen – für Themen wie Waffen- und Atomexporte oder Umweltfragen sensibilisiert war. Für juristische Visa-Fragen fehlte mir der Erfahrungsvorlauf. Sie können davon ausgehen, dass ich mich selbst am meisten darüber ärgere.

Es scheint eine einfache Erklärung für Ihre Hybris zu geben: die Arroganz der Macht. Der Fischer ist als Außenminister endgültig abgehoben, glauben viele, der interessiert sich doch nicht für die Sorgen von Botschaftsbeamten in Kiew.

Das ist falsch. Um die Verbesserung der Ausstattung der Botschaft in Kiew habe ich mich selbst gekümmert. Nur der Missbrauch stand da nicht im Fokus, sondern die personellen Ressourcen. Von mir aus können Sie sagen, der Junge ist nach seiner Wiederwahl 2002 als Außenminister abgehoben – was im Übrigen auch nicht stimmt –, aber wir reden hier über die Jahre 2000 bis 2002. Da kann von Arroganz der Macht doch keine Rede sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieser Vorwurf damals erhoben worden ist.

Das scheint Sie neuerdings ja ernsthaft zu beschäftigen.

Sie offenbar vor allem. Klar, es ist nicht angenehm, was ich da bisweilen in den Kommentaren lese. Aber ich kann auch einstecken. Manches wird vielleicht auch nicht ganz falsch sein. Dass ich ab und an auch als arrogant empfunden werde, will ich gar nicht bestreiten, manchmal auch als ungeduldig und hart in der Sache argumentierend. Aber als Außenminister kann ich in der Öffentlichkeit nicht mehr so direkt werden. Also schlucke ich vieles herunter, da wirke ich dann in dem einen oder anderen Gespräch nicht gerade wie Franz von Assisi, das gebe ich gerne zu.

Sind die Missstände in der Visa-Praxis spätestens 2003 abgestellt worden, wie Sie behaupten?

Ja. Das Reisebüroverfahren und die Reiseschutzversicherung, die den Missbrauch ermöglicht haben, sind 2001 bzw. 2002 in Kiew abgeschafft worden. Die Kontrollen wurden wesentlich verstärkt. Bereits im Jahr 2004 lag die Zahl der dort erteilten Visa wieder unter dem Niveau von 1998.

Es gibt laufend neue Vorwürfe. Die deutsche Botschaft in Kiew habe sich angeblich noch 2004 über die chaotischen Zustände bei der Visa-Vergabe beschwert. Und das Auswärtige Amt soll dem Innenministerium Hinweise auf kriminelle Machenschaften in der Visa-Stelle in Prishtina im Kosovo verschwiegen haben.

Den Medien werden seit Wochen immer wieder einzelne Dokumente zugespielt, aus denen dann selektiv oder ohne den gesamten Schriftverkehr zu kennen zitiert wird. Ziel ist der Versuch, nachzuweisen, dass die alten Zustände angeblich länger angehalten haben als bis zum Jahre 2003. Das ist falsch. Bei weltweit drei Millionen Visa pro Jahr gibt es natürlich keine Garantie dafür, dass nicht wieder irgendwo ein Problem auftaucht. Das war auch unter Kohl/Kinkel/Kanther so, und das wird auch in Zukunft nicht hundertprozentig auszuschließen sein. Visa-Vergabe war und ist eine schwierige Aufgabe im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Reisefreiheit. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Auswärtigen Amt und an den Auslandsvertretungen leisten dabei ganz hervorragende Arbeit. Sie arbeiten permanent daran, die neuen Regelungen zu optimieren.

Die Visa-Affäre ist nicht nur durch Ihren Gestus der Unangreifbarkeit, sondern auch durch grüne Selbstgefälligkeit verschärft worden. Man konnte fast schon wieder den Eindruck gewinnen, die Grünen hielten sich für die besseren Menschen.

Diese Unterstellung ist doch Unfug. Es waren meine Fehler – nicht die der Grünen. Und die Gründe für dieses Fehlverhalten liegen nicht etwa in einer angeblich weltfremden Multikulti-Ideologie. Ich stehe für ein weltoffenes und reisefreundliches Deutschland, und das im Rahmen der geltenden Gesetze und unter Berücksichtigung der Sicherheitserfordernisse, die nach dem 11. September 2001 gewachsen sind. Man darf aus den Fehlern aber nicht die falschen Schlüsse ziehen. Die verbesserte Reisefreiheit nach 1989 hat zur Demokratisierung in Osteuropa beigetragen, und diese Demokratisierung ist ein Beitrag für unsere Sicherheit.

Die Grünen haben lange nicht realisiert, dass es in der Visa-Affäre um Verwaltungsvorschriften und konkrete Versäumnisse ging, nicht um ihre Vorstellung von einem weltoffenen Land.

Laden Sie die Affäre nicht bei meiner Partei ab, sondern bei mir. Nur zu. Ich stelle mich der Kritik. Aber für die Skandalisierung und das wahlkampfbedingte Schüren von Ängsten bin nun wahrlich nicht ich verantwortlich. Die Opposition tut doch inzwischen so, als komme jeder, der in dieses Land reisen will, in illegaler Absicht zu uns. Das ist unverantwortlich. Ein Deutschland, das sich abschottet, wird verlieren. Ich gehöre nicht zu denen, die meinen, Multikulti sei out. Wir haben eine multikulturelle Realität. Und wir werden im nächsten Jahrzehnt Zuwanderung in wirklichen Größenordnungen brauchen – wenn wir uns mittels Integration darauf nicht vorbereiten, werden wir schweren Schaden nehmen.

Es fällt auf, dass Sie rhetorisch weiter für Reisefreiheit plädieren. Aber wenn der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko nach Deutschland kommt und um konkrete Reiseerleichterungen bittet, dann schweigen Sie.

Wir haben in der EU im Februar einen Konsens-Beschluss hinbekommen, der in einem Aktionsplan auch Gespräche mit der Ukraine über Reiseerleichterungen vorsieht. Wir warten jetzt auf die Vorschläge von Frau Ferrero-Waldner, der zuständigen EU-Kommissarin. Ich habe mit ihr gesprochen und glaube, sie wird sehr vernünftige Vorschläge machen. Präsident Juschtschenko sagt, lasst uns bei den Reiseerleichterungen mit bestimmten Gruppen, etwa Wissenschaftlern, Managern und Studenten, beginnen. Das finde ich einen sehr vernünftigen Ansatz. Umgekehrt müssen von der ukrainischen Seite natürlich auch die Sicherheitserfordernisse angepackt werden. Genau das haben die EU-Kommission und die Ukraine im Blick.

Gehen Sie davon aus, dass mit Ihrem Auftritt im Ausschuss am 25. April die Affäre für Sie beendet ist?

Ich bin zur Wahrheit und nichts als der Wahrheit verpflichtet. Ich habe nichts zu vertuschen. Welche Folgen meine Aussage haben wird, kann ich nicht sagen.

Die Entzauberung Joschka Fischers geht einher mit Vorwürfen an allen Ecken und Enden. Im Zuge der Visa-Affäre ist auch bekannt geworden, dass Ihr früherer Staatsminister Ludger Volmer seine politischen Kontakte für Geschäftsanbahnungen im Ausland nutzte. Was wussten Sie von Volmers nebenberuflichen Aktivitäten?

Wir haben uns nie darüber ausgetauscht. Die Vorwürfe beziehen sich im Übrigen auf einen Zeitraum, als er schon längst nicht mehr im Amt war.

Es scheint Sie nicht sonderlich umzutreiben, dass es auch bei den Grünen mittlerweile eine Verquickung von politischem Mandat und Geschäften gibt.

Das, was Sie in Ihrer Frage unterstellen, kann ich nicht feststellen.

Eine weitere Krisenfront ist der Streit um die Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber China. Am Donnerstag wird die Opposition im Bundestag einen Antrag vorlegen, der sich für die momentane Beibehaltung des Embargos ausspricht. Werden Sie dem Antrag zustimmen?

Dieser Antrag ist der Versuch, die Koalition vorzuführen. Dieser Versuch wird scheitern.

Warum sagen Sie nicht offen, dass Sie die Aufhebung des Embargos für einen Fehler halten?

Ich habe in der vorigen Woche meine Haltung deutlich gemacht. Nichtsdestotrotz hat sich in China seit 1989 vieles geändert, daher auch der EU-Ratsbeschluss vom 17. Dezember 2004, der vorsieht, auf eine Aufhebung des Waffenembargos hinzuarbeiten. Aber wir haben in der EU hierzu eben noch keinen Konsens. Eine Rolle spielen hierbei nicht zuletzt die Menschenrechtslage, die regionale Stabilität und die Vereinbarung eines wirksamen restriktiven EU-Verhaltenskodexes für Rüstungsexporte, hinzu kommen die amerikanischen Bedenken.

Das ist eine freundliche Umschreibung für einen außenpolitischen Dissens zwischen dem Kanzler und seinem Außenminister. Welche Haltung der Bundesregierung gilt denn nun: Für oder gegen das China-Embargo?

Wir arbeiten an einem Konsens in der EU, und ich werde mich am Donnerstag im Bundestag dazu äußern.

Schröder erhofft sich von der Aufhebung des Embargos einen Aufschwung des deutsch-chinesischen Handels. Ist das eine Arbeitsteilung, die Sie akzeptieren können: Der Kanzler ist für die Wirtschaft zuständig, der Außenminister für die Menschenrechte?

Ich weiß, dass sich der Kanzler für die Menschenrechte genauso einsetzt wie ich mich für die Wirtschaft. Dies ist keine Floskel der Koalitionsharmonie, ich weiß es wirklich.

In ihrem eigenen Ministerium ist ein heftiger Streit über amtsinterne Nachrufe für ehemalige NSDAP-Mitglieder entbrannt. Was überrascht Sie daran eigentlich mehr: die Illoyalität oder das Geschichtsverständnis einiger Ihrer Diplomaten?

Ich nehme das anders wahr: Die intensive Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern funktioniert wie immer hervorragend, fachlich und menschlich. Sie sind hochqualifiziert und motiviert. Das Amt insgesamt ist loyal. Das Geschichtsverständnis, das sich hier bei einigen – vor allem ehemaligen – Beamten offenbart, spricht angesichts der Äußerungen, die ich in letzter Zeit gehört habe, für sich. Ich dachte, dass es nach der großartigen und für unser Land historischen Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 einen Common Sense gäbe, wie wir zu unserer Geschichte und der historischen Verantwortung stehen.

Sie halten Ihre Entscheidung, pauschal gar keine Nachrufe mit ehrendem Gedenken mehr erscheinen zu lassen, nach wie vor für richtig?

Ja. Ich maße mir damit keinerlei abschließendes Werturteil über einzelne Biografien an. Ich habe viele Akten gelesen, ich weiß, wie kompliziert das ist. Aber es ist 2003 ein Nachruf erschienen, der nie hätte erscheinen dürfen und für den ich mich wirklich schäme.

Sie meinen die Würdigung des Generalkonsuls a. D. Fritz Nüßlein, früher Mitglied der NSDAP, ein verurteilter Kriegsverbrecher.

Es muss ausgeschlossen werden, dass sich so etwas wiederholt. Ich als Minister kann nicht zulassen, dass wir das Risiko in Kauf nehmen, die Interessen unseres Landes im Ausland schwer zu beschädigen – nur weil wir ehemalige Diplomaten mit einer möglicherweise fragwürdigen Biografie im Amtsblatt des Auswärtigen Amtes ehren.

Wieso kann das Auswärtige Amt keine Prüfung jedes einzelnen Falles vornehmen?

Weil uns das überfordern würde. Die Akten sagen nicht immer alles aus. Sie sind mitunter unvollständig oder geschönt. Ich denke, es geht aber auch gar nicht um Einzelfälle. Wir werden insgesamt unsere Geschichte aufarbeiten müssen.

Hat Ihr Ministerium in dieser Hinsicht Nachholbedarf?

Es gibt nach wie vor ein historisches Selbstverständnisproblem, dem wir uns im Ministerium stellen müssen. Da gibt es Nachholbedarf. Das ist meine Überzeugung.

Sie sind über sechs Jahre Minister. Warum ist das nicht früher passiert?

Warum ist Ihnen die Frage nicht früher eingefallen? Ich habe eben nicht umsonst Richard von Weizsäcker erwähnt. Ich bin davon ausgegangen, dass diese neue Sicht auf unsere eigene Geschichte durch diesen liberalen Konservativen auch in weiten Teilen der demokratischen Rechten mitgetragen wird. Ich hätte nicht gedacht, dass es noch einmal zu einer solchen Debatte kommt, wie sie einige jetzt geführt haben. Wir werden als deutsche Demokratie aber nur akzeptiert, wenn wir die historisch-moralische Verantwortung für unsere Vergangenheit weiterhin annehmen.

In welcher Form soll diese Aufarbeitung geleistet werden?

Ich wäre hier für die Einberufung einer unabhängigen Historikerkommission, eine Idee, für die auch der Personalrat bereits Sympathie bekundet hat. Dazu sind aber noch eine Reihe von Gesprächen zu führen. Wir wollen im Auswärtigen Amt einen Konsens dazu herstellen, vor allem mit der Personalvertretung. Ich gehe davon aus, dass das noch in diesem Monat entschieden wird.

All diese Krisen, so virulent sie auch sind, verblassen vor der desaströsen Bilanz der rot-grünen Regierung auf dem Arbeitsmarkt. Angesichts von über 5 Millionen Arbeitslosen macht sich selbst im rot-grünen Milieu die Überzeugung breit, dass es SPD und Grüne auch nicht können.

Die Arbeitslosigkeit ist das Hauptproblem, ohne jeden Zweifel. Die Zahl von 5,2 Millionen kommt daher, dass wir für eine ehrliche Statistik gesorgt haben. Hunderttausende von Sozialhilfeempfänger bekommen damit zum ersten Mal Zugang zu den Leistungen und Angeboten der Bundesagentur für Arbeit. Das ist richtig. Es kann nicht sein, dass junge Leute ihre berufliche Karriere in der Sozialhilfe beginnen. Es darf auch nicht sein, dass Alleinerziehende nicht arbeiten können, nur weil es keine Ganztagsbetreuung für ihre Kinder gibt. Daran arbeiten wir. Und wir sorgen dafür, dass die Energien der Bundesagentur für Arbeit hauptsächlich auf die Vermittlung gelenkt werden. Natürlich bleibt es eine große Herausforderung, dass Leute über fünfzig Jahre mittlerweile schon fast zum alten Eisen gehören. Das ist nicht hinnehmbar.

Ihr Trost in allen Ehren. Aber der hilft niemandem weiter. Ihre Regierung ist mit dem Versprechen angetreten, die Arbeitslosigkeit spürbar zu verringern. Gemessen daran, ist Rot-Grün gescheitert.

Gescheitert ist die Opposition mit dem Bemühen, Alternativkonzepte vorzulegen. Natürlich sind wir in einer konjunkturell besonders schwierigen Situation, aber wir befinden uns jetzt in der Mitte des Stromes. So wie wir bei der Gesundheitsreform mittlerweile Erfolge verbuchen können, so werden wir auch mit unseren Reformen auf dem Arbeitsmarkt Fortschritte erzielen. Bedenken Sie bitte, dass Harz IV noch keine vier Monate in Kraft ist.

Wie erklären Sie sich, dass „grüne“ Themen wie das Antidiskriminierungsgesetz oder die Windenergie plötzlich so gestrig wirken?

Die Frage ist doch, ob sich der Zeitgeist wirklich in der Bevölkerung ändert oder nur in den Medien. Das werden wir bei den nächsten Wahlen sehen.

Ist nicht das grüne Lebensgefühl selbst im Wandel begriffen?

Was, bitte schön, soll altmodisch daran sein, sich auf die Herausforderungen der Zukunft einzustellen? Ein klassisches grünes Thema wie die erneuerbaren Energien, das ist doch nicht gestrig. Ich war mitten im Sommer in Peking, ich habe die Sonne dort vor lauter Smog nicht gesehen. China macht riesige Fortschritte, aber das hat auch gewaltige ökologische Konsequenzen. Die Zukunft liegt also nicht in den fossilen oder nuklearen Energieträgern, sondern in den erneuerbaren Energien. Ich bin der festen Überzeugung, dass das die Mehrheit in diesem Land nicht anders sieht.

Im Moment feiert ein antiquiertes Bild aus den 70er-Jahren seine Wiederauferstehung: Die Grünen, die Frösche über die Straße tragen, aber nichts gegen die Arbeitslosigkeit tun.

Mag sein, dass wir bei einigen gerade aus der Mode sind. Aber wir sind von dieser Welt – im Gegensatz zu denen, die diese Mode schneidern. Mancher mag sich ja Sorgen machen, dass die Hörfähigkeit seiner Pferde unter den Rotoren der Windkraftanlagen leidet. Das nenne ich zukunftsorientiert. Da ist mir um die Zukunft der Grünen nicht bange.

Muss die Republik eine konservative Regierung wirklich fürchten?

Es geht nicht um Furcht, es geht um die Fähigkeit zur gerechten, sozial ausgewogenen, ökologisch verantwortlichen Erneuerung des Landes. Schauen Sie sich nur einmal Frau Merkels Kopfpauschale an und hören Sie genau auf ihr ständiges Mantra vom Umbau des Landes im „Geist der Freiheit“. Wer da glauben mag, die Opposition könne es besser als die Regierung, der würde schnell eines Besseren belehrt.

Vielleicht kommt Schröder schon nach der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen auf die Idee, der ach so unfähigen Union eine große Koalition im Bund anzubieten?

Erstens werden wir die NRW-Wahl nicht verlieren. Zweitens sehe ich nicht die Gefahr einer großen Koalition. Die SPD würde sich mit einem solchen Schritt im Übrigen keinen Gefallen tun, um es mal ganz milde zu formulieren.

Und die Nachrufe auf Sie, die jetzt überall geschrieben werden, die Suche nach einem Nachfolger für das Amt des Außenministers, das öffentliche Spekulieren mit Namen wie Reinhard Bütikofer – das alles amüsiert Sie natürlich nur.

Was ich allein in den letzten Wochen an Spekulationen gelesen habe, das schließt sich mehrfach gegenseitig aus.

Nennen Sie uns bitte drei Gründe: Warum soll Rot-Grün nach 2006 noch einmal vier Jahre regieren?

Wir müssen das Land ökologisch erneuern. Wir müssen es sozial reformieren. Deutschland muss kinderfreundlicher werden. Wir müssen unser Bildungssystem auf ein Niveau heben, auf dem wir international Spitze sind und zugleich eine breite Zugangsgerechtigkeit schaffen. Wir müssen unsere nach wie vor vorhandene Stärke international in einen neuen Konsens zwischen Arm und Reich einbringen, so wie es Kofi Annan gerade vorgeschlagen hat. Und wir müssen Europa vollenden. Sie sehen, das wird ein spannender Wahlkampf!