„Der japanische Kaiser war kein Hitler“, sagt Ian Buruma

Anders als in Deutschland gilt es in Japan als taktlos, viel über die eigenen Kriegsverbrechen zu sprechen

taz: Mühen sich die Japaner eigentlich auch, ihre Vergangenheit zu bewältigen? Hierzulande weiß man darüber ja nichts Genaueres …

Ian Buruma: Was kein Zufall ist.

Inwiefern?

Schon vor dem Krieg haben viele Japaner zu Deutschland aufgeblickt, aber sich eigentlich für den gesamten deutschsprachigen Kulturraum sehr begeistert. Umgekehrt ist das ganz anders. Liberale Deutsche wollen mit Japan eigentlich nichts zu tun haben. Die Japaner sind für sie Leute, die in ihrer Firma schlafen – irgendwie fast preußisch. Mit denen wollen sie nicht verglichen werden.

Womöglich ist man hierzulande derart von der Singularität des Holocaust überwältigt, dass uns die Verbrechen anderer gar nicht in den Sinn kommen?

Mag sein. Allerdings: Die Verbrechen sind tatsächlich nicht vergleichbar. Wenn Deutsche und Österreicher von ihren Verbrechen sprechen, dann meinen sie nicht Kriegsverbrechen, dann ist vom Holocaust die Rede. Dafür gibt es in der japanischen Vergangenheit keine Entsprechung. Es gab den Krieg, der wurde mit ungeheurer Brutalität und verbrecherisch geführt, aber es gab keine Ausrottungskampagne.

Sie sprechen in Hinblick auf die japanische Kultur von einer „Kultur der Scham“. Worüber empfinden die Japaner Scham?

Also, es ist zunächst wie überall: Manche schämen sich, manche schämen sich nicht. Worüber sie sich übrigens kaum schämen, ist der Krieg gegen die USA und die westlichen Kolonialmächte. Diesen Krieg halten sie zwar für bedauerlich, gleichzeitig aber für eine ziemlich gewöhnliche Sache. Worüber sie Scham empfinden, ist die Art, wie sie die anderen Asiaten behandelt haben, die Koreaner, aber besonders die Chinesen, die massenhaft hingemetzelt wurden.

Eine Kultur der Scham zeichnet sich dadurch aus, dass man so wenig wie möglich über das redet, was Anlass zur Scham gibt. Ist das richtig?

Ja, holzschnittartig könnte man das so sagen. Nur, dieser Antagonismus zwischen einer „Kultur der Scham“ – wie in Japan – und einer „Kultur der Schuld“ – der man Deutschland und Österreich zurechnen könnte – wurde ja nicht von mir eingeführt. Ich bin nicht total überzeugt von einer schroffen Gegenüberstellung, ich denke, beides existiert nebeneinander. Es ist nicht so, dass die Japaner nur verschämt über ihre Vergangenheit schweigen. Ebenso wenig war die deutsche Nachkriegsgeschichte durch unablässiges, schuldbewusstes Reden über die eigenen Verbrechen geprägt – die österreichische noch viel weniger.

Aber die Japaner versuchen das Gesicht zu wahren, während staatliche Repräsentanten hierzulande bei jedem Gedenktag auf die Knie fallen und ihre Trauer um die Opfer bekunden – typischerweise für eine „Kultur der Schuld“.

Beides existiert in beiden Kulturen nebeneinander, wenngleich in der einen die Schamkultur, in der anderen die Schuldkultur überwiegt. Zur Kultur der Schuld gehört diese sehr christlich grundierte Vorstellung, man muss seine Schuld eingestehen und um Vergebung bitten. Kein japanischer Politiker würde auf die Idee kommen, sich hinzuknien, um für historische Verbrechen um Verzeihung zu bitten, wie Willy Brandt es im ehemaligen Warschauer Ghetto getan hat. Die Japaner – auch Linke und Liberale – empfänden es als extrem taktlos, allzu viele Worte über die Verbrechen, die sie begangen haben, zu verlieren. Das ist, sehr grob gesagt, die Differenz zwischen einer Schuld- und einer Schamkultur.

Was sind für Sie die markantesten Unterschiede?

Das Reden über den Krieg ist in Japan politisierter, instrumentalisierter: Diejenigen, die die japanischen Gräuel nicht in Vergessenheit geraten lassen wollen, sind diejenigen, die den pazifistischen Konsens der Nachkriegsgeschichte aufrechterhalten wollen. Die überwiegende Mehrheit liberaler Japaner sagt immer noch: Weil wir so schlimme Dinge getan haben, müssen wir der Welt ein Beispiel der Friedfertigkeit geben. Vor allem aber gibt es in Japan nicht diesen konstitutionellen Bruch wie in Deutschland oder gar in Österreich, wo man sagen konnte: von 1933 beziehungsweise von 1938 an war die Periode der Hitlerei, die war 1945 wieder vorbei. In Japan hatten die Bürokraten, die vor dem Krieg das Sagen hatten, auch während des Krieges das Sagen.

Es gab keinen Hitler, keinen Goebbels, keinen Himmler …

Der Einzige, den es gab, war der Kaiser selbst, und der war ja nicht wirklich ein Hitler – und gerade er war es ja, der nach 1945 unangegriffen blieb.

Hinzu kommt wohl noch: Das zentrale Symbol dieser Periode ist in Deutschland Auschwitz, in Japan Hiroschima. Das legt ja nahe, sich selbst nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer zu sehen.

Hiroschima ist gewiss das stärkste Symbol. Aber, wiederum, es gibt unterschiedliche Arten, es zu interpretieren. Die pazifistische Linke sagt: Japan wurde für seine Untaten bestraft. Die Konservativen sagen: Hiroschima war derart barbarisch, schlimmer als alles, was die Japaner getan haben. Aber sicherlich gilt: Hiroschima gibt den Japanern die Möglichkeit, sich selbst als Opfer zu sehen, auf die anderen zu zeigen und zu sagen: „Ihr wart nicht besser als wir, vielleicht sogar noch schlimmer.“ Das können die Deutschen nicht, Dresden hin, Dresden her.

INTERVIEW: ROBERT MISIK