Kampf um die Sehnsüchte

Erkundungen für die Präzisierung der Gefühle rund um einen Aufstand (7): Aufarbeitung von 68? Nicht nur! Ins Visier nimmt die Dutschke-Debatte linke Nostalgiker – und zwar gerade die jungen

■ Muss, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen? Um diese Frage ist eine Debatte entbrannt, die auch ein aktuelles politisches und gesellschaftliches Selbstverständnis betrifft: Wie viel Abgrenzung von 68 muss, wie viel Anlehnung soll sein? Eine Essayreihe über den langen Marsch durch die Deutungen einer Revolte

VON ISOLDE CHARIM

Wieso kann ein neues Buch über Rudi Dutschke und die RAF im Jahre 2005 noch solch eine Aufregung verursachen und hitzigste Debatten auslösen? Was wird dabei eigentlich verhandelt? Angesichts der allseitigen Emotionen ist zunächst einmal klar – es geht nicht um Historisierung, nicht um die Aufarbeitung von etwas Vergangenem, sondern um etwas ganz Aktuelles, etwas äußerst Lebendiges.

Was haben wir? Auf der einen Seite die RAF-Ausstellung und Filme wie „Die fetten Jahre sind vorbei“ – auf der anderen Seite lange Polemiken gegen diese und das Reemtsma-Buch. Um zu verstehen, worum es bei dieser Auseinandersetzung geht, muss man betrachten, wer hier eigentlich ins Visier genommen wird: Es ist nicht in erster Linie die RAF oder Dutschke (auch wenn Wolfgang Kraushaar seinen Beitrag so gemeint haben sollte) – nein, es geht um andere. Reemtsma hingegen benennt diesen eigentlichen Adressaten gleich auf den ersten Seiten.

Das erste Wort des Buches gibt das Thema an: Terror. Es geht um Terror, und dieser brauche einen „anerkennenden Blick“. Ziel ist also der „verständnisvolle Dritte“, wie Reemtsma ihn nennt – um ihn geht es. Nun ist das so genannte Sympathisantenmilieu auch nicht gerade die aktuellste Erscheinung und würde die Aufregung nicht erklären, hätten die, die da zum Angriff blasen, nicht eine Art von Wiedergänger dieser Figur ausgemacht und – ohne sie zu benennen – ins Visier genommen: die linken Nostalgiker – sie spielen die heimliche Hauptrolle, um sie wird der Kampf geführt. Damit sind keineswegs jene Veteranen von 68 gemeint, die einen verklärten Blick auf ihre Jugend werfen. Es geht vielmehr um die Scharen junger Leute, die in den Kinos einer Erinnerung nachhängen, die nicht die ihre ist. Dirk Knipphals hat an dieser Stelle schon darauf hingewiesen, dass der heutige Bezug auf 68 „pure Nostalgie“ ist.

Nostalgie bezeichnet zunächst die Unmöglichkeit, sich unmittelbar mit etwas identifizieren zu können. Eben das trifft für die heutigen „verständnisvollen Dritten“ zu: Sie stehen mit großem Befremden vor den Texten sowohl der RAF als auch von Dutschke. Und trotzdem scheint diese Distanz die Faszinationskraft nicht zu tangieren. Denn faszinierend für den Nostalgiker ist – so Slavoj Žižek in ganz anderem Zusammenhang – der „Blick des Anderen“, der Blick des „hypothetischen, mystischen Zuschauers“ der damaligen Gegenwart, der sich noch unmittelbar damit identifizieren konnte, der das noch ernst nehmen konnte. Diese Unmittelbarkeit ist Ziel der nostalgischen Sehnsucht, die die Zuseher von „Die fetten Jahre“ heute ergreifen mag.

Welchen Effekt hat nun aber diese Nostalgie? Es ist klar, dass diese dort aufkommt, wo die eigene Subjektposition brüchig geworden ist. Nur dann tritt das Bedürfnis nach einer intakten Identität auf. Auf der Suche nach dem verlorenen Objekt ist man somit immer auch auf der Suche nach einer verlorenen Gegenwart. Unklar ist, ob solche Usurpierung einer fremden Subjektposition eine Kanalisierung für brachliegende Identitäten ist – oder ob sie nicht vielmehr Anregung, Stimulus ist, um diesen Zustand zu transzendieren. Hält die Nostalgie den Funken am Lodern, oder begräbt sie ihn? Während die Linke für sich selbst noch nicht entschieden hat, was es bedeutet, ein Nostalgieverein zu sein, scheint die Antwort für Reemtsma und Co. eindeutig: Sie trauen der Nostalgie nicht – sie trauen ihr aber einiges zu. Eben deshalb sehen sie sich gezwungen, anzutreten zu einem Feldzug gegen die Nostalgie. Denn genau als solcher ist ihr Buch zu verstehen.

Was aber ist so gefährlich an der Nostalgie, dass sie solch heftige Reaktionen auszulösen vermag? Ist es die Gefahr, die Nostalgiker könnten eine vierte Generation ausbilden (etwa in Gestalt der No-Globals) oder eine Studentenbewegung initiieren? Wohl kaum. Denn, wie Gustav Seibt in der Süddeutschen schreibt, „der Kommunismus und seine vielen revolutionären Ableger mögen tot sein, was lebt, ist der Revolutionspop“. Was aber regt ihn daran so auf: dass es nur leere Gesten sind, oder dass diese, selbst als leere, immer noch Gesten des Dissenses sind? Darauf erhalten wir keine Antwort.

Schauen wir also, wie sie es anstellen, der Nostalgie – warum auch immer – den Kampf anzusagen. Wie entsorgt man einen Blick? Indem man dessen Mechanismus umdreht. Ein identifizierender Blick nimmt sein Objekt als Volles und deshalb Verführerisches wahr – mit Lacan gesprochen: ein Signifikant der Fülle. Als solcher erscheinen dem nostalgischen Blick 1968 und dessen Protagonisten. Von Lacan lernen wir auch, dass solch eine Fülle nur eine perspektivische Illusion ist, die immer in ihr Gegenteil kippen kann: Dann verwandelt sich das Objekt in einen Signifikanten der Leere. Wir finden bei Žižek ein anschauliches Beispiel hierfür: In einer Folge seiner Fernsehserie über die Wunder des Meeres zeigte Jacques Cousteau eine Art von Tintenfisch, der, in seinem Element betrachtet, das heißt in großer Tiefe, sich mit besonderer Grazie bewegt und eine Faszination zugleich des Schreckens wie der Schönheit ausübt – „aber sobald wir ihn aus dem Wasser ziehen, ist alles, was wir sehen, ein Ekel erregender, hilfloser Klumpen Schleim“. Genau nach diesem Modus betreiben die Kreuzritter ihren Exorzismus der Nostalgie.

Bei Reemtsma, der in dieser Technik sehr bewandert ist, geht das so: die „RAF verstehen“ heißt nicht, deren Beweggründe und Selbstexplikationen nachzuvollziehen – genau das wirft er ja den „Verständnisvollen“ wie etwa dem Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter vor –, es bedeutet vielmehr, deren „Attraktivität für andere verstehen“, das heißt analysieren und damit entzaubern. Die RAF-Leute faszinieren als „Ikonen der Authentizität“, doch hinter der „Aura des Rätsels“ verstecke sich nur eine Gruppe nackter Desperados – die RAF, ein Signifikant der Leere, der nur „sinnentleerte Aktionen“ hervorbringe.

Ein anderer Text des schmalen Bändchens sekundiert ihm darin. Karin Wieland beschreibt die Inszenierungen und den Willen zur Ästhetisierung der RAF so, als ob diese Kostümierungen nur dazu da seien, die eigentliche Leere dahinter zu verbergen. Das ist eine wesentlich plattere Strategie der Ernüchterung, denn sie verkennt, dass ebensolches zu jeder Rebellion gehört. Wie Marx sagte, in historischen Situationen entlehnen die Menschen „Namen, Schlachtparole, Kostüm“, um in dieser Verkleidung, neue Geschichtsszenen aufzuführen. Das bedeutet keinesfalls, der RAF den Status von Revolutionären zuzusprechen, es bedeutet nur, dass Kostümierungen allein noch kein ausreichendes Indiz dagegen sind.

Reemtsma ist da deutlich intelligenter in seiner Argumentation. Für ihn geht es um eine „Verführung zur Hermeneutik“, die das Publikum dazu bringt, hinter dem Offensichtlichen ein Geheimnis anzunehmen, den Signifikanten der Leere als Signifikanten der Fülle wahrzunehmen. Diese „Verführung zur Hermeneutik“ entstehe aber nicht durch Draperien, sie ist vielmehr Effekt der Macht und der Gewalt, die er als die eigentliche terroristische Erfahrung kennzeichnet. Hier sind wir beim zentralen Punkt angelangt.

Zum einen ist die Frage der Gewalt, in ihrer Realität, jenes Moment, das Sympathisanten und Nostalgiker unterscheidet. Das „Dilemma des Sympathisanten“ (Stefan Reinecke) ist nicht jenes des Nostalgikers, der aus der Distanz keine Ambivalenzen mehr zulassen kann, der nur jenen naiven Blick, jene vorbehaltslose Identifikation imaginiert, die es in dieser Reinform nie gegeben haben mag. Insofern ist die Nostalgie gefährlich, da sie ein ungebrochen romantischer Blick ist – und die unzeitgemäße Gewaltfrage eine zentrale Strategie der Desillusionierung.

Zum anderen ist die Frage der Gewalt aber aus einem ganz anderen Grund zentral – eben jenem, der die in vielen Teilen zutreffende Reemtsma-Analyse kippen lässt in das, was oben als Feldzug bezeichnet wurde, in einen „theorieförmigen Affekt“, wie Reemtsma selbst so schön formuliert. Denn was heißt „Gewalt“? Wo beginnt diese?

Der Text über Rudi Dutschke zeigt bekanntlich diesen als „Begründer der Stadtguerilla in Deutschland“, eines Konzepts, das später für die RAF entscheidend wurde. Sowohl den Umstand, dass ein und derselbe Topos in den unterschiedlichen Kontexten von Studentenbewegung und RAF unterschiedliche Bedeutung hatte, als auch die Unstimmigkeit, hier eine Kausalität anzunehmen, hat Stefan Reinecke bereits Weihnachten 2004 an dieser Stelle eindrucksvoll dargelegt. Es geht bei dieser Art, die Frage nach der Gewalt zu stellen, aber nicht darum, Unterscheidungen zu treffen. Mehr noch, wer Unterscheidungen ausmacht, ist selbst schon verdächtig. Denn der springende Punkt ist, dass Gewalt hier – unausgesprochen – mit Selbstermächtigung gleichgesetzt wird. Darum geht es eigentlich – um Selbstermächtigung. Das ist keine semantische Raffinesse, das ist die wesentliche Strategie dieses Feldzuges, denn sie erlaubt es, statt Unterscheidungen Verbindungen herzustellen: nämlich jene zwischen Studentenbewegung und RAF. Selbstermächtigung – das ist die Klammer, die einen Text über Dutschke und einen über die RAF zwischen zwei Buchdeckeln verbindet.

Selbstermächtigung – das ist ebenso „Geschichte ist machbar“ wie der tödliche Schuss auf die Geisel. Das ist die geheime Vokabel des Buches. Wenn Gewalt dort beginnen soll, wo sich die Individuen zu „Subjekten ihrer Geschichte“ machen. Wenn die RAF als „Teil der Verwirklichung des Selbstbilds der Linken“ gesehen wird, dann ist klar, dass Selbstermächtigung der geheime Schlachtruf in einem Feldzug ist, der das gesamte Projekt der Linken entsorgen soll.

Isolde Charim lebt und arbeitet als Philosophin und Publizistin in Wien. – Die Dutschke-Debatte wird kommende Woche fortgesetzt.