Jeder Song ein Film

Die jetzt erschienene Retrospektive „Always“ zeigt June Tabor als eine der größten Folkdiven neben Joan Baez

Musik ist nicht nur eine Anhäufung von mehr oder minder schönen Klängen, die dem Gehör schmeicheln oder es reizen – sie ist immer auch eine Erzählung. Für die Musik June Tabors gilt das in ganz besonderem Maße. Seit den frühen Sechzigerjahren hat sie sich der Songform verschrieben, wobei sie sowohl die klassische Folkballade britischer und schottischer Provenienz interpretiert als auch die Werke zeitgenössischer Songwriter. Einer von diesen, und zwar niemand Geringerer als Elvis Costello, hat mal über sie gesagt: „Wenn man June Tabors Stimme nicht mag, dann sollte man aufhören, Musik zu hören.“ Und als wolle er diese Wertschätzung noch unterstreichen, schrieb Costello für diese Stimme einen seiner schönsten Songs, „All This Useless Beauty“.

Ebenso wie June Tabor Geschichten erzählt, kann man natürlich auch Geschichten über sie erzählen. Angefangen hat sie 1963 als „Floor Singer“ (jemand, der im Pub oder Folk Club aufstand und unbegleitet ein Lied vortrug) in ihrer Heimatstadt Warwick. Damals bestand ihr Repertoire aus genau einem Lied, „und das war auch noch ausgerechnet ,Michael Row The Boat Ashore‘!“, wie sie heute augenzwinkernd gesteht. In den folgenden Jahren ersang sie sich in Insiderkreisen einen Namen, wurde zu Festivals und zu Sängertreffen eingeladen. Ihr Ruf verbreitete sich ein Jahrzehnt lang nur über Mundpropaganda. 1973 war ihre Reputation so weit gediehen, dass ihr das renommierte Folk-Label Topic anbot, ein Album aufzunehmen. „Aber sie wollten eine Liste mit Songs, die ich singen würde, und ich konnte mich nicht entschließen, welche das sein sollten.“ Erst drei Jahre später schaffte sie es, doch eine Liste zusammenzustellen und ihr Debüt „Airs And Graces“ aufzunehmen.

Ihren Archivjob an der Universitätsbibliothek Oxford hing sie 1980 an den Nagel – allerdings nicht, um die Musik zum Beruf zu machen, sondern um mit ihrem Mann ein Restaurant zu eröffnen. Fünf Jahre lang betrat sie kaum eine Bühne und nahm lediglich ein Album auf. Als ihre Ehe in die Brüche ging und das Restaurant verkauft wurde, ging auch Bibliotheken das Geld aus, und Küchenchefin wollte sie um keinen Preis mehr sein. Als Karriereoption blieb also nur die Musik. „Ich habe spät angefangen mit der Musik, aber ich bin immer noch da – irgendwas muss also dran sein“, sagt Tabor rückblickend lakonisch.

Und natürlich ist etwas dran – jeder, der Tabor einmal live erlebt hat, wird das nur zu gerne bestätigen. Und auch die auf der Vier-CD-Box „Always“ (Topic) enthaltenen 67 Aufnahmen aus den Jahren 1971 bis 2004 (von denen rund ein Drittel bislang unveröffentlicht war) legen davon beredtes Zeugnis ab. Hier kann man ihre weiche Altstimme in allen Settings erleben, vom Sologesang der frühen Folkclubauftritte über die großen Ensembles wie das Creative Jazz Orchestra oder die unterschwellig rockende Oysterband bis zu ihren intimen Trioaufnahmen mit dem begnadeten Jazzpianisten Huw Warren und ihrem Lebensgefährten Mark Emerson an der Violine. Daneben fand sich Tabor immer wieder in der Gesellschaft großer Gitarristen, und so sind auf diesem Boxset auch Aufnahmen mit so berühmten Kollegen wie Richard Thompson, David Lindley oder dem Bretonen Dan Ar Bras zu hören. Aber immer ist es ihre Stimme, die den Hörer packt und nicht mehr loslässt. Wenn Tabor einen Song singt, dann tut sie das vollkommen, dann lebt sie ihn für den Moment des Singens.

Besonders berührt hat sie viele ihrer Zuhörer mit der Interpretation von Eric Bogles „The Band Played Waltzing Mathilda“. Der Song erzählt die Geschichte eines jungen Australiers, der 1915 von seinem Land in den Krieg gegen die Türkei geschickt wird und dort beide Beine verliert. 1976 nahm Tabor den Song für ihr Debütalbum auf, und 1977, zur Hochzeit des Punk, sang sie ihn in einer Session für den britischen Radio-DJ John Peel und grub sich damit tief in das kollektive Bewusstsein der Briten ein. Als Peel Mitte der Achtziger gebeten wurde, seine Lieblingssessions für eine Veröffentlichung auszuwählen, war Tabor unter den ersten vier.

„Always“ ist eine wahre Schatzkiste musikalischer Erzählungen, die das Schaffen der vielleicht größten Folkdiva neben Joan Baez über 34 Jahre dokumentiert. Keine leichte Abendunterhaltung – hier ist jeder Song ein Film.

RALF BEI DER KELLEN