Köhler aus verlorener Ehre

Sand und Staub: „Atash“ („Durst“), das Langfilmdebüt des in Israel lebenden palästinensischen Regisseurs Tawfik Abu Wael, erzählt in rauen, kargen Bildern von einer Familie im Niemandsland

VON CRISTINA NORD

Zwischen zwei Hügeln erstreckt sich das Tal. Eine staubige Straße führt hierher und nicht weiter, so wie „Atash“ („Durst“), das Langfilmdebüt des palästinensischen Regisseurs Tawfik Abu Wael, sich fast nie aus diesem Gelände fortbewegt. Das Tal ist Sackgasse und Niemandsland, doppelt an den Rand gedrängt. Schon vom nächstliegenden, kaum je zu sehenden palästinensischen Dorf trennen es Welten, von der israelischen Gesellschaft Galaxien. Trotzdem wohnt hier eine Familie: Vater, Mutter, zwei erwachsene Töchter, ein heranwachsender Sohn. Ihre Behausung ist eine Ruine. Die Betonmauern der Gebäudeteile verfallen, und man weiß nicht: Was ist Stall, was Wohnung, was Lager? Anders als in den meisten Filmen aus den südlichen Mittelmeerländern herrscht kein klares Licht vor, sondern trüben Staub, Sand und Ruß die Sicht.

In den ersten Einstellungen umzirkelt die Familie in hektischer Bewegung qualmende Holzhaufen; die Kamera begleitet sie in nicht minder expressiver Bewegung. Es dauert daher eine Weile, bis man sich zurechtfindet in „Atash“, bis man begreift, was die Familie Shukri tut: Sie stellt Holzkohle her. Und sie hat ein Geheimnis. Das hat mit der Tochter Gamila (Roba Blal, der einzigen vom Theater kommenden Schauspielerin unter Laiendarstellern) zu tun. Worin genau es besteht, erklärt „Atash“ nicht. Als Um Shukri, der Sohn (Amal Bweerat), an einem Tag den Esel nimmt, um zur Schule zu reiten, da kehrt er ohne das Tier zurück. Eine Weile später kommt es von allein zurück. Rote Buchstaben sind auf seinen Bauch geschmiert. So sehr die Frauen auch schrubben, sie bekommen die Schrift nicht ab. „Bruder der Hure“ steht da, das erklären die Untertitel, und das Presseheft zum Film erklärt: Gamila hat vor Jahren ihre Unschuld verloren. Ihr Vater hätte sie töten müssen, um die Familienehre zu bewahren. Doch weil er sie so sehr liebt, zieht er mit seiner Familie ins Niemandsland zwischen den Hügeln. Diese Erklärung hat etwas Deterministisches; die Tradition ist unumstößlich – kaum geht es um die Ehre, ist jede Verhandelbarkeit, ist jeder Willensakt aufgehoben. Im Film sichtbar wird die strenge Kausalität zum Glück nicht, jedenfalls nicht, solange das Auge in die Codes und Chiffren nicht bis ins Letzte eingeweiht ist.

Das führt dazu, dass „Atash“ zunächst viel Raum lässt für die harsche Sinnlichkeit der Figuren und der Landschaft. Der Film konzentriert sich auf das Elementare, auf das Wasser, das der Familie am Anfang fehlt, auf die Temperatur, den Schmutz in den Gesichtern, das Licht, den Wind. Nachdem der Vater endlich eine Wasserleitung installiert hat, schaut sich die Kamera Assaf Sudris lange das Sprühen der Wassertropfen und das darin sich brechende Licht an. Auch den Kontrast von Innen- und Außenaufnahmen macht sich Sudri zunutze. Viele Einstellungen arbeiten damit, dass man zunächst nichts sieht, da in den Innenräumen das Licht entweder verschluckt wird oder – wo es durch einen Spalt einfällt – blendet. Augenblicke der Behaglichkeit und der inneren Ruhe sind selten. Einmal liegt Gamila auf dem Boden, sie lässt sich von der Sonne wärmen und streichelt mit einem Stück Holz die Lippen. Der Vater herrscht die Tochter an, sie solle das Holz wegwerfen. Schon das also ist zu viel: zu viel Berührung, zu viel Erotik. Zu viel in diesem Niemandsland, in dem es eben nicht nur an Wasser mangelt, sondern auch an Austausch und Gespräch – die Shukris haben kaum etwas von einer Gruppe und viel von Monaden.

„Atash“ baut lange Zeit auf diese Kargheit. Gegen Ende dann besinnt sich der Film leider auf etwas anderes, indem in plötzlicher dramatischer Volte ein weißes Kleid, loderndes Feuer und eine Pistole ins Spiel bringt. Die Montage verrätselt sich. Figuren, Gegenstände und Landschaft geben ihre Sinnlichkeit preis, um symbolisch zu werden.