Acht Avivas sollt ihr sein

Bleibt man immer, wie man ist? Todd Solondz’ neuer Film „Palindrome“ will es uns glauben machen – und arbeitet zu diesem Zweck mit acht Schauspielern, die alle dieselbe Hauptfigur verkörpern

VON SVEN VON REDEN

Erst fünf Langfilme hat Todd Solondz gedreht, und schon scheint er sich in einer selbstbezüglichen Schleife verfangen zu haben. In seinem letzten Film „Storytelling“ spielte Paul Giamatti („American Splendor“, „Sideways“) einen missmutigen Filmemacher, der mit seiner Hornbrille und dem schütteren Haar nicht zufällig Solondz sehr ähnlich sah (der Film fand in Deutschland keinen Verleiher, obwohl Franka Potente in einer Nebenrolle auftrat). Sein neuer Film „Palindrome“ beginnt mit der Beerdigung von Dawn Wiener, der Protagonistin seines ersten Indiehits „Willkommen im Tollhaus“. Es scheint, als antworte Solondz mit diesem Einstieg dem bekannten amerikanischen Filmkritiker Roger Ebert, der 1995 in seiner Rezension von „Willkommen im Tollhaus“ hoffte, dass Wiener eines Tages reich und beliebt sein würde, die Cheerleader jedoch, die sie quälten, das armseligen Leben führen würden, das sie verdienten.

Doch Solondz’ Welt ist nicht gerecht: Wir erfahren, dass Dawn Wiener ihrem jungen Leben ein Ende gesetzt hat. Solondz beginnt „Palindrome“ mit einem Selbstmord, und von da ab steigert er das Elend langsam. Vom Gedenkgottesdienst schneidet er in das Schlafzimmer von Dawns zwölfjähriger Cousine Aviva. Ihre Mutter beruhigt sie, dass sie nicht so enden werde wie Dawn, die fett geworden sei, Probleme mit Pickeln hatte und, Gerüchten nach, vergewaltigt worden sei. In der Tat hat sich Regisseur und Drehbuchautor Solondz ein anderes Martyrium für Aviva ausgedacht: Sie will unbedingt schon in ihren frühen Teenagerjahren Mutter werden, dafür lässt sie sich vom nächsten dahergelaufenen Jungen schwängern – der Vater interessiert sie sowieso nicht, sie will nur die Mutterschaft. Avivas Eltern nötigen sie zu einer Abtreibung, und als diese nicht komplikationsfrei verläuft, flieht sie aus ihrem liberalen Zuhause und landet – nach einem One-Night-Stand mit einem wesentlich älteren Truckfahrer – in einer christlich fundamentalistischen Großfamilie. Doch die entpuppt sich, wie zu erwarten war, als genauso bigott wie die eigene Familie und vor allem als wahrhaft mörderisch.

Ein Palindrom nennt man ein Wort, das von vorne und hinten gelesen gleich ist. Aviva ist also ein Palindrom – doch der Filmtitel bezieht sich natürlich nicht einfach nur auf den Namen der Protagonistin: Wie auf M.C. Eschers berühmten Bildern von Endlosschleifen gibt es auch in „Palindrome“ kein wirkliches Entkommen, nur einen Seitenwechsel. Oder wie Solondz es in seinen „Erläuterungen“ zum Film beschreibt: Die eine Familie lässt Aviva keine Wahl, für die andere ist bereits von vornherein alles entschieden.

Was für Aviva gilt, gilt allgemein für die Figuren in Solondz’ Filmen. Es gelingt ihnen nicht, sich oder ihre Lebensumstände wirklich zu ändern: Ob der zynische Mark Wiener aus „Willkommen im Tollhaus“ und „Palindrome“, der pädophile Bill Maplewood aus „Happiness“ oder die gebärfixierte Aviva Victor, Solondz’ Figuren können nicht anders. Während gewöhnlich im Film der Held Krisen durchlebt und Abenteuer besteht, um am Ende ein besserer – oder zumindest anderer – Mensch zu sein, laufen sie vor und zurück, bleiben aber letztlich auf der Stelle stehen.

Daher ist es auch bezeichnend, dass der Titel des Films die Pluralform wählt („Palindromes“ im englischen Original, „Palindrome“ auf Deutsch): Es geht nicht nur um Aviva, sondern um die gesamte Menschheit. „Egal was die Leute sagen, du wirst immer du bleiben“, meint Avivas Mutter zu Beginn des Filmes, am Ende wird Dawns Bruder Mark (wie schon in „Willkommen im Tollhaus“ gespielt von Matthew Faber) diese Aussage erweitern: „Man bleibt immer so, wie man ist. Wer mit 13 depressiv ist, ist es auch mit 50. Es gibt keinen freien Willen, wir sind alle Roboter, programmiert von unserem genetischen Code.“ In der Genetik bezeichnet man als Palindrom auch eine bestimmte Sequenz auf DNA-Doppelstrangmolekülen, die bei Wechsel der Leserichtung auf beiden Strängen identisch ist.

Solondz ein biologistisches und letztlich konservatives Menschenbild vorzuwerfen, liegt nahe. Der Mensch ist bei ihm allerdings eher schwach als schlecht, ihn durch Normen, Gesetze und Repressionen einzuhegen, führt nur zu Doppelmoral. Er sieht gerade in der Statik eine Chance zur Freiheit: „Der Gedanke, wir seien unfähig, uns je zu verändern, ist in vieler Hinsicht befreiend“, schreibt der Filmemacher in seinen dem Presseheft beigefügten Erläuterungen zum Film. „Unter anderem befreit er uns von dem Zwang, uns unbedingt ändern zu müssen. Sich seine Unfähigkeit zur Veränderung einzugestehen, hat auch etwas Tröstliches: Niemand kann sich seinem Schicksal entziehen, eben der Mensch zu sein, der er nun einmal ist. Das mag man vielleicht als Verhängnis empfinden, doch beinhaltet der Satz auch die Hoffnung auf Gnade.“ In unserer ewigen Fehlbarkeit sind wir alle gleich – darin liegt der Trost. Und in einer Zeit, da die ruhelose Arbeit am Selbst zum Dogma geworden ist, bekommt dieser Gedanke auch etwas Subversives.

Paradoxerweise versucht Solondz die Unveränderlichkeit seiner Protagonistin gerade dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass er Aviva von insgesamt acht Darstellern unterschiedlichen Alters und Geschlechts, unterschiedlicher Hautfarbe und Statur spielen lässt. Was zunächst wie ein Verfremdungseffekt wirkt, soll laut Regisseur dazu führen, noch eindringlicher die Gefühle der Zuschauer anzusprechen. Hat man sich einmal an die ständigen Schauspielerwechsel gewöhnt, stehen sie der Empathie mit der Hauptfigur zumindest nicht mehr im Wege. Was auf Dauer eher befremdet, ist die seltsame Mischung aus totaler Fixierung (auf die Mutterschaft) und Teilnahmslosigkeit aller Avivas, die die vom Regisseur intendierte Unschuldigkeit und Verletzlichkeit seiner Hauptfigur eher in den Hintergrund drängt. Als „durch und durch sympathisch“ (Solondz) dürfte sie wohl kaum ein Zuschauer empfinden – eher als etwas zurückgeblieben. Was durch die ständigen Schauspielerwechsel allerdings verstärkt wird, ist tatsächlich der Eindruck, einer allgemeingültigen gleichnishaften Erzählung zuzuschauen.

Solondz ist nicht der erste Regisseur, der mehrere Schauspieler für eine Figur besetzt hat, aber er nutzt dieses Mittel völlig eigen. Luis Buñuel sperrte sich zwar gegen eine psychoanalytische Lesart der doppelten Besetzung der Rolle der Conchita in seinem letzten Film „Dieses obskure Objekt der Begierde“, aber dennoch wird seitdem spekuliert: Manifestiert sich hier eine Projektion des Liebhabers oder eine Persönlichkeitsspaltung der Frau? Die Metamorphose des Fred Madison in David Lynchs „Lost Highway“ hat Slavoj Zizek kürzlich als Flucht aus einer ihr unerträglichen Realität gedeutet. Bei Solondz kommt man nicht auf solche Ideen. Er psychologisiert nicht. Das Warum der Verwandlung an der Figur festzumachen, wäre ja auch nur sinnvoll, wenn sie eine Entwicklung durchlaufen würden.

Von allen humoristischen Tragikern unter den amerikanischen Regisseuren bleibt Solondz daher auch der radikalste. Anders als etwa bei Terry Zwigoff, Neil LaBute oder Woody Allen gibt es bei ihm keine echte Hoffnung, sondern eben höchstens Hoffnung auf Gnade. Diese gewährt er gerade denjenigen, denen sie nach den momentanen Moralvorstellungen der westlichen Gesellschaften am wenigsten zusteht: Pädophilen. Wie schon in „Happiness“ zeigt Solondz auch in „Palindrome“ einen „Kinderschänder“, den unglücklichen Truckfahrer, eher als tragische denn als bösartige Figur. Worin Solondz die Tragik sieht, wird am Ende von „Palindrome“ angedeutet, als der ebenfalls beschuldigte Mark Wiener sich gegenüber Aviva verteidigt: „Ich bin nicht pädophil. Pädophile lieben Kinder.“ Pädophilie steht in Solondz’ Filmen für größtmögliche Tragik: Denn gibt es etwas Schlimmeres, als das zu zerstören, was man liebt?

Alle seine Filme seien Liebesgeschichten, schreibt der Regisseur in seinen Erläuterungen: „Allesamt handeln sie von unerwiderter Liebe, verbotener Liebe, Selbstverliebtheit.“ Menschenfeindlich ist das nicht, wie Solondz immer vorgeworfen wird: Seine Filme sind voller Liebe, nur Erfüllung bringt sie nie.