Vom Wert des Glaubens

Das Christentum ist ein wesentlicher Teil der europäischen Identität – und gehört daher auf den Lehrplan der Schulen. Ohne Religiosität ist Religion aber nicht vermittelbar

Kainsmal? Ein wachsender Prozentsatz der Deutschen kennt nicht einmal mehr die Bedeutung von Ostern

Selten hat sich eine Debatte so weit von der Lebenswirklichkeit entfernt wie jetzt die überhitzte Diskussion über das Fach Wertekunde an Berliner Schulen. Fast alle Kontrahenten scheinen nämlich von einer seltsamen Voraussetzung auszugehen: dass Kinder und Jugendliche durch zwei Unterrichtsstunden pro Woche nachhaltig beeinflusst werden können, konkreter: dass ihre Moral durch ein einziges Schulfach zu prägen ist. Niedliche Vorstellung. Wer so etwas glaubt, muss Erziehung für ein Kinderspiel halten. Aber glaubt das irgendjemand tatsächlich?

Je länger die Diskussion dauert, desto stärker wird der unangenehme Eindruck, dass nur sehr wenige Leute wirklich an das glauben, was sie sagen. Auf beiden Seiten der Frontlinie. Das Getöse, das Oppositionspolitiker derzeit veranstalten, tut in den Ohren weh. Die Absicht ist leicht durchschaubar und wenig originell: Man befindet sich halt auf der Suche nach griffigen Wahlkampfparolen. Aber angesichts dieses Niveaus wird Politikverdrossenheit zur Bürgerpflicht.

Eine „staatlich organisierte Wertevermittlung“ befürchtet Hermann Kues, der Kirchenbeauftragte der Unionsfraktion, angeblich, und er befindet: „Es riecht verdammt nach DDR.“ Kommt er sich bei solchen Sätzen nicht selber ein bisschen blöd vor? Lustig, wenn ausgerechnet ein Politiker der CDU, deren Vertreter sonst gerne den Werteverfall beklagen, jetzt die Alarmglocke läutet, weil in der Schule von Werten die Rede sein soll.

Wie hätte der Abgeordnete es denn gern? Wie stellt er sich den Unterricht in Geschichte, Biologie und Politik vor? Wünscht er eine Sexualaufklärung ohne jeden Hinweis auf Verantwortung? Wertfreie Informationen über Antisemitismus und Konzentrationslager? Ach nein, so hat Kues das gewiss nicht gemeint. Wie dann? Alles ist erlaubt, sogar geboten – nur kein Pflichtfach, das Wertekunde heißt? Die Scheinheiligkeit der Argumentation ist kaum zu überbieten.

Aber die Gegenseite bemüht sich redlich darum, wenigstens gleichzuziehen. Bürgermeister Klaus Wowereit und der Berliner SPD-Vorsitzende Michael Müller behaupten, der Religionsunterricht werde durch die Einführung der Wertekunde nicht abgewertet. Schließlich bleibe dieser als freiwilliges Zusatzangebot bestehen. Für wie dumm halten sie die Bevölkerung? Und für wie dumm halten sie die Schülerinnen und Schüler? Kaum ein Kind wird freiwillig in die Schule traben, um sich dasselbe noch einmal erzählen zu lassen, was es in einem anderen Fach – ganz ähnlich – gerade erst gehört hat.

Sollten die sozialdemokratischen Pläne in Berlin umgesetzt werden, dann wird dort die Teilnahme am Religionsunterricht in den Schulen weiter zurückgehen. Das wäre nicht der Untergang des Abendlandes und bedeutete auch keine existenzielle Bedrohung der Christenheit. So weit reicht der Arm des SPD-Landesverbandes der deutschen Hauptstadt denn doch nicht. Und natürlich gibt es für die Vermittlung von Glaubensinhalten andere Möglichkeiten als Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Aber es wäre dennoch eine bedauerliche Entwicklung.

Die Kenntnis der Bibel und der fundamentalen Aussagen der christlichen Religion sind – unabhängig vom persönlichen Glauben – wesentliche Inhalte des europäischen Bildungskanons. Kunstgeschichte, Architektur, Literatur, das Rechtssystem, die Entwicklung der Musik und das Menschenbild fußen darauf. Nicht ausschließlich, auch wenn manche christlich-fundamentalistischen Wahlkämpfer das gerne glauben machen wollen. Europa ist durch viele Einflüsse geprägt worden. Eine zentrale historische und kulturelle Rolle lässt sich dem Christentum dennoch schwerlich absprechen.

Bildung ist kein Selbstzweck. Sie erfüllt immer eine Funktion. Sehr häufig besteht diese Funktion darin, durch die Benutzung gemeinsamer Chiffren die Kommunikation zu erleichtern – auch über reale und imaginierte Grenzen hinweg. Wenn heute ein Tansanier, eine Ukrainerin und ein Deutscher miteinander reden, dann kann die Erwähnung des „Kainsmales“ oder des „brennenden Dornbusches“ die eigene Sicht auf einen Sachverhalt blitzartig erhellen. Und damit eine Diskussion abkürzen und beleben, die gerade für alle Beteiligten mühselig zu werden drohte. Das ist Verständigung im ganz ursprünglichen Sinne des Wortes.

Kainsmal? Ein wachsender Prozentsatz der Deutschen kennt nicht einmal mehr die Bedeutung von Ostern. Das sollte kein Anlass zur Freude sein, auch nicht für Atheisten. Man macht sich nicht dadurch besser verständlich, dass man das Spektrum der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten beschneidet.

Es ist absurd, die Bedeutung christlicher Inhalte ausgerechnet im Namen der multikulturellen Gesellschaft und im Zeitalter der Globalisierung leugnen zu wollen. Schon wahr: Die Weltgemeinschaft kann sich inzwischen dank der technischen Entwicklung auch auf andere Chiffren verständigen. Aber ob Anspielungen auf „Sex and the city“ tatsächlich dauerhaft einen hinreichenden Ersatz für Abraham und Sarah bieten werden? Wären die Drehbuchschreiber damit nicht doch etwas überfordert?

Ja, aber genau darum gehe es doch, rufen die Befürworter der Wertekunde begeistert aus. Nämlich die Kinder dazu zu zwingen, auch Inhalte zu lernen, die ihnen reichlich fremd erscheinen. Christentum, Islam, Buddhismus. Und – ganz nebenbei, der Umfang steht noch nicht so genau fest – auch noch ganz allgemein über Werte zu reden.

Lustig, dass ein CDU-Politiker die Alarmglocke läutet, weil in der Schule von Werten die Rede sein soll

Können wir mal seriös werden? Eltern und Jugendliche wünschen in jedem Fach engagierte Lehrer, die sich für ihre Materie begeistern. Und deshalb andere dafür begeistern können. Wenn ein Lehrer seinem Fachgebiet distanziert gegenübersteht und sich bei seinem Unterricht selber langweilt, dann langweilt er auch seine Klasse. Die Qualität der Wissensvermittlung hängt immer auch davon ab, ob der Lehrende selbst von der Bedeutung dessen überzeugt ist, was er mitzuteilen hat.

Der Glaube an das Transzendentale ist ein fundamentaler Bestandteil der Vermittlung christlicher Werte. Wer das nicht überzeugend lehren kann – oder schlimmer: nicht lehren darf, weil er ja auf Äquidistanz zu allen Religionen verpflichtet ist! –, wird den Kern der christlichen Botschaft kaum vermitteln können. Vor dieser Folie rauschen vorhersehbar auch alle anderen Inhalte des Unterrichts mal eben so vorbei. Religion ist ohne Religiosität nicht vermittelbar.

Wer Verständnis für andere Glaubensrichtungen wecken will, der muss zunächst einmal ein grundsätzliches Verständnis für den Gottesbegriff als solchen wecken. Das geht noch immer am ehesten auf dem Weg über die eigene Kultur und den eigenen Glauben. Erst die Kenntnis der eigenen Welt ermöglicht den Blick über deren Grenzen hinaus.

Und deshalb müsse man die Kinder nun also ganz wehrlos den Einflüssen demagogischer Pfaffen überlassen, fragen Gegner des Religionsunterrichts. Ach, Gott. Wenn Missionierung so einfach wäre, dann wären die Kirchen voller. BETTINA GAUS