Was auf die Fresse

Gracia wird am 21. Mai in Kiew beim Eurovision Song Contest singen – allen Skandalen um frisierte Charts zum Trotz. Denn sie haben mit ihr nichts zu tun, umso mehr mit Missgunst und übler Nachrede

VON JAN FEDDERSEN

ARD-Programmdirektor Günter Struve beendete Samstag im hauseigenen Boulevardmagazin „Brisant“ die Diskussion um die Sängerin Gracia und um ihre Teilnahme am Eurovision Song Contest am 21. Mai in Kiew: „Sie darf nicht nur singen. Sie muss es auch.“ Die Verträge zwischen dem Musikkonzern Universal, der die Vertriebsrechte an den Produkten Gracias hält, und dem NDR seien eindeutig – was bedeutet, so Jürgen Meier-Beer, TV-Unterhaltungschef beim NDR und Verantwortlicher der deutschen Vorentscheidung zur Eurovision, dass Gracia auftreten wird – oder kein deutscher Kandidat. In diesem Fall müsste die ARD der Eurovision Strafe bezahlen. Denn mit dem 21. März sei die Frist abgelaufen, Gracias Performance zu stornieren.

Befördert wurde der Trubel um Gracia und ihr „Run & Hide“ durch Enthüllungen, denen zufolge David Brandes, Manager der Sängerin wie auch Komponist des Liedes, die Charts manipuliert haben soll. Anfang Februar war Gracia so gut platziert, dass der NDR sie zu seinem Grand-Prix-Vorentscheid einlud. Die Verkäufe wiesen aber Ungereimtheiten auf, was Media Control, zuständig für die Verkaufshitparade, veranlasste, gleich drei Acts aus dem Hause Brandes aus den Charts zu verbannen. Bild entfachte daraufhin eine Kampagne: Gracia müsse verzichten, weil sie ohne die Schummelverkäufe nicht bei „Germany – 12 Points!“ hätte teilnehmen dürfen. Pikant: Ralph Siegel hätte von einer Disqualifikation profitiert; sein Duo, Nicole Süßmilch & Marco Matias, wäre der Nutznießer gewesen.

Petitessen abgehalfterter Grand-Prix-Sternchen

Doch die ARD argumentiert, die Zweitplatzierten, ohnehin in keiner Hitparade notiert, hätten das Televoting nicht gewonnen – Siegerin war eben Gracia. Und auch Folgendes wissen alle Beteiligten, erst recht die Bild-Reporter wie auch Ralph Siegel: dass der NDR Gracia nicht nur ihrer (frisierten) Chartnotierung wegen rekrutiert hatte. Trotzdem wird viel Wind um wenig gemacht.

Die Bild beispielsweise ließ, besonders lächerlich und verlogen, Samstag unter der Überschrift „Jetzt gehen die Kollegen auf Gracia los“ eine Reihe früherer Interpreten beim Grand Prix Eurovision einen offenen Brief unterzeichnen. Darin heißt es, Gracias Reise nach Kiew stünde unter einem schlechten Stern, weil sie doch Deutschland vertreten werde: „Du singst nicht für dich, sondern für dein Land!“ Unterzeichnet von Michelle, Nicole, Lou, Ingrid Peters, Corinna May, Ireen Sheer, Cindy & Bert und Lena Valaitis. Als ob irgendeine der schon damals oft nur viertrangigen Figuren von gestern und vorgestern je mit patriotischen Gefühlen beim Grand Prix angetreten wäre. Vielmehr wurde der Event stets nur für sich und die eigene Karriere genutzt (abgesehen von denen, die nicht einmal das geschafft haben): Weshalb tun sie jetzt so national, als sei Gracia eine brünettierte Vaterlandsverräterin in spe, eine singende Nestbeschmutzerin?

Was sind schon Charts wirklich noch wert?

Wobei Gracia bisher nicht hat erkennen lassen, dass sie die Nerven verlieren könnte: „Ich finde es verachtenswert, wie alle auf mir herumhacken. Diesen Heuchlern würde ich am liebsten in die Fresse hauen.“

Man muss ihre Aussage verstehen: Keiner ihrer Kritiker – und heißt er auch Udo Jürgens, der sich zu Wort gemeldet haben soll – ist gegenwärtig selbst in Hitparaden vertreten. Überhaupt sind die Charts, das ist das Gute an diesem „Skandal“, ins Gerede gekommen: Wer kauft heutzutage noch CD-Singles? Schon mit niedrigen dreistelligen Zahlen schafft man es in die oberen Regionen – insofern sind diese Charts für echte Marktbeobachtungen ohnehin nur noch beschränkt tauglich.

Fest steht bei Redaktionsschluss lediglich: Gracia wird nicht disqualifiziert, denn Phonoverband wie Media Control haben ihr persönlich nichts vorzuwerfen; Ralph Siegel muss in München bleiben, er wird nicht zum dritten Mal von dubiosen Skandälchen begünstigt; die Universal hat den Vertriebsvertrag mit David Brandes für die Gracia-Tonträger gekündigt; Gracias Clubtournee wurde abgesagt, angeblich, weil sie sich auf Kiew vorbereiten müsse; das System der Charts wird wahrscheinlich erneuert – dann mit mehr Rücksicht auf die Radioquoten („Airplay“), nicht allein auf die immer marginaler werdenden Verkaufszahlen von Tonträgern.

Offen ist einzig, wann die hoch flexible Bild-Zeitung anfängt, Gracia als Märtyrerin aufzubauen – und diese sich selbst so sieht. In Zeiten wachsender Religiosität wäre das eine passende Imagekorrektur.