Der unverstandene Nachbar

60 Jahre nach Kriegsende haben die Japaner noch immer keine klare Haltung zu ihren Verbrechen an den Chinesen gefunden. Ohne Aufklärung wird es die auch nicht geben

Scham, Sühneund kritische Aufarbeitung werden in Japan dem einzelnen Bürger überlassenDas Land wurde nie genug mit seiner grausamen Geschichte konfrontiert

Begleitet von lauten Protesten in Schanghai und einem starken Polizeiaufgebot, das weitere Demonstrationen in anderen Städten verhinderte, trafen sich gestern der japanische und der chinesische Außenminister in Peking. Beide verlangten Entschuldigungen voneinander. Der eine für die japanischen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Der andere für die jüngsten Proteste, bei denen chinesische Demonstranten ungehindert Steine auf die japanische Botschaft in China werfen konnten.

Überraschend ist die öffentliche Kritik vor allem auf Seiten der Regierung in Tokio, die bisher alles tat, um offenen Streit mit der chinesischen Führung zu vermeiden. Die derzeitige Empörung in Japan aber ist echt und Ausdruck eines nicht länger zu verheimlichenden Dilemmas: Die Japaner, Volk und Regierung gleichermaßen, wissen nicht mehr, wie sie mit einem beständig an Einfluss gewinnenden China umgehen sollen. Sie hören aus Peking den Schwur, dass China nie wieder von anderen erniedrigt werden solle und ahnen irgendwie: Der Schwur richtet sich gegen Japan. Aber warum?

60 Jahre lang habe sich die Japaner mit ihrer eigenen Vergangenheit kaum auseinander gesetzt. Auch in diesem Jahr, wo angesichts des 60. Jahrestag des Kriegsendes in den damals von Japan eroberten Ländern viel der Geschichte gedacht wird, findet die Erinnerung in Japan nicht statt. Keine Fernsehdiskussionen über die japanische Täterrolle im Krieg, keine Zeitungsserien über neu entdeckte Kriegsverbrechen der Tenno-Armee.

Scham, Sühne und kritische Aufarbeitung werden in Japan dem einzelnen, gewissenhaften Bürger überlassen. Weshalb die Mehrheit in den letzten Tagen hilflos den Fernsehbildern von den antijapanischen Demonstrationen in China zuschauen musste. Die meisten Japaner begriffen überhaupt nicht, was die Chinesen so aufgebracht hatte. Sind die wirtschaftlichen Beziehungen nicht besser als je zuvor?

Jetzt rächt sich, was an Aufarbeitung versäumt wurde. Der japanisch-chinesische Krieg von 1931 bis 1945 war gekennzeichnet von einer Unzahl japanischer Kriegsverbrechen. Das Massaker von Nanking ist das bekannteste – aber längst nicht das einzige. Systematisch vergewaltigten die Tenno-Truppen asiatische Frauen, so genannte comfort women. Es gab Menschenversuche, Zwangsarbeiter. Unzählige chinesische Zivilisten starben.

Das ist alles Geschichte – und doch akut. Gerade in den letzten Jahren sind viele Wunden aufgeplatzt. Nur in Japan hat das kaum einer wahrgenommen. Das Land wurde in der Nachkriegszeit nie ausreichend mit seiner grausamen Geschichte konfrontiert. Zwar gab es auch in Tokio einen Kriegsverbrecherprozess der Siegermächte, in dem einige Führungspersönlichkeiten aus Staat und Armee zum Tode verurteilt wurden. Doch ihre Namen waren relativ unbekannt.

Tenno Hirohito hingegen, die einzige Person, die alle Japaner mit dem Krieg identifizierten, wurde von Washington verschont. Er musste dem Volk nur erklären, dass er nicht Gott, wie zuvor von der Kriegspropaganda behauptet, sondern Mensch sei. Danach durfte er weiter als Kaiser dienen.

Doch nicht nur die USA entließen Japan ohne Zwang zur inneren Umkehr aus der Kriegsverantwortung. Auch die Nachbarländer hatten erst mal andere Probleme. China steckte im Bürgerkrieg, später in der Kulturrevolution. Die Koreaner erlebten ebenfalls einen Bürgerkrieg, dann die Teilung ihrer Halbinsel. In Südkorea regierten bis Ende der Achtzigerjahre Diktatoren, die mit Japan lieber kooperieren wollten.

Ohne äußeren Druck aber machte die Vergangenheitsbewältigung in Japan erst sehr späte Fortschritte. Zumal es genug eigene Opfer gab, um die sich fürchterliche Geschichten rankten: von den Atombombenopfern in Hiroschima und Nagasaki über die vielen japanischen Soldaten, die in russischer Kriegsgefangenschaft starben, bis zu im Kindesalter verheizten Kamikazefliegern.

Inzwischen hat sich die Tokioter Regierung zwar mehrmals offiziell bei Chinesen und Koreanern entschuldigt. Doch gibt es immer wieder Anlässe, bei denen man sich fragt, wie ehrlich diese Entschuldigungen eigentlich gemeint waren. Wenn etwa die Vergewaltigung der comfort women nicht mehr in den Schulbüchern erwähnt wird; wenn der Premierminister den Yasukuni-Schrein besucht, wo neben anderen auch japanische Kriegsverbrecher geehrt werden; wenn dieser und jener Minister mal wieder versucht, den Aggressionskrieg als Befreiung vom westlichen Kolonialismus zu verharmlosen; wenn ein rechtsradikaler Populist wie Shintaro Ishihara, der aus seinem Hass gegen China keinen Hehl macht, zum Gouverneur von Tokio gewählt wird – dann weiß man am Ende, dass Regierung und Bevölkerung in Japan bis heute nicht zu einer eindeutigen Grundhaltung in der Kriegsfrage gefunden haben.

Das Schuldgefühl bleibt vage, weder Medien noch Schulerziehung machen es an konkreten Verbrechen fest. Nanking hat sich im Kollektivgedächtnis nie richtig eingeprägt.

Unabhängig von der Vergangenheit interessieren sich die Japaner für die Chinafrage heute aus einem ganz anderen Grund: Sie fürchten sich vor der Wiederauferstehung Chinas als Großmacht. In der Geschichte war China immer der große, einflussreiche Nachbar. Einen gewissen Respekt vor der alten Tradition Chinas haben sich die Japaner bis heute bewahrt. So kommt nun der Verdacht auf, dass das 20. Jahrhundert eine Ausnahme war – die Zeit, in der der kleine Inselstaat der Großmacht die Stirn bieten konnte. Schon glaubt man an die Rückkehr der Geschichte, als wenn in Europa das Römische Reich wiedergeboren würde.

Vielleicht spielt dabei auch das versteckte Schuldgefühl eine Rolle. Man ängstigt sich umso mehr, gerade weil klar ist, dass man China Unrecht angetan hat.

Dazu kommt das Gefühl, missverstanden zu werden. Als stabile Demokratie hat sich Japan nichts vorzuwerfen. Trotz des engen Bündnisses mit Amerika beteiligte sich Japan bis vor kurzem an keinem Krieg. Nicht wenige Japaner denken, ihre „pazifistische“ Nachkriegsgeschichte werde in China und Korea zu Unrecht nicht wahrgenommen.

Allerdings nähert sich Japans „pazifistische“ Ära gerade ihrem Ende. Tokio hat vor einem Jahr erstmals in der Nachkriegsgeschichte eigene Soldaten in ein Kriegsgebiet entsandt: in den Irak. Viele junge japanische Politiker plädieren heute für Verfassungsänderungen und wollen Japan zu einem „normalen“ Land machen. Ihnen gegenüber ist die Opposition schwach, seit sich die Sozialisten Mitte der Neunzigerjahre selbst auflösten. Tatsächlich geht der Rechtsruck durch die ganze Gesellschaft: Schon wird an den Schulen wieder bestraft, wer nicht die Nationalhymne singt.

Für den Umgang mit China verheißt das alles nichts Gutes. Japan leidet an Chinas Aufstieg und dem eigenen Bedeutungsverlust. Der lässt sich mit moralischer Aufrüstung und diplomatischer Frechheit nicht kompensieren. CHIKAKO YAMAMOTO