Das Flüstern übertönt jeden Lärm

Ohne besonders innovativ zu sein, führt Sidney Pollack in „Die Dolmetscherin“ vor, was einen echten Thriller ausmacht: eine gewisse Handlungsdichte gepaart mit der richtigen Dosis Paranoia – und Schauspieler wie Nicole Kidman und Sean Penn

von BARBARA SCHWEIZERHOF

Ein Flüstern kann jeden Lärm übertönen. Wenn es die Wahrheit spricht. Mit der ganzen Schwere an Bedeutung deklamiert, bildet dieser Satz den eigentlichen Showdown von Sydney Pollacks wunderbar altmodischem Thriller „Die Dolmetscherin“. Tatsächlich steht am Anfang der Handlung ein Flüstern im Dunkeln. Die Raffinesse des Genres zeigt sich darin, dass der Wahrheitsgehalt der Botschaft erst noch ans Tageslicht gebracht werden muss. Denn Sätze sind verschieden interpretierbar. Wer wüsste das besser als Silvia Broome (Nicole Kidman), Dolmetscherin bei der UNO in New York, die eines Nachts schnell noch einmal in ihre Kabine schlüpft, um ein paar liegen gebliebene Sachen zu holen und dabei leise Stimmen im Versammlungsraum unten sagen hört: „Der Lehrer wird den Raum nicht lebend verlassen.“

Erst der Kontext macht den Satz bedeutsam. Aber was genau ist der Kontext? Dieser Frage nachzugehen ist Aufgabe des Sicherheitsbeamten Tobin Keller (Sean Penn), der Silvia zwei Tage später verhört. Denn wie der Zuschauer fragt auch er sich, was es mit dem Zufall auf sich hat, dass die Worte ausgerechnet in einer Sprache waren, die außer Silvia in der gesamten UNO kaum jemand versteht. Es handelt sich um „Ku“, einen Dialekt, der im eigens für diesen Film erfundenen afrikanischen Land Maboto gesprochen wird. Das angedrohte Attentat bezieht sich auf den ebenfalls völlig fiktiven Präsidenten dieses Landes. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind jedoch beabsichtigt: Präsident Zuwanie ist der zum Schlächter gewordene einstige Befreier seines Staats, Prototyp des afrikanischen Tyrannenherrschers. Durch eine Rede vor der UNO will Zuwanie eine Vorladung vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag umgehen. Wodurch er die Amerikaner in die missliche Lage bringt, jemanden beschützen zu müssen, den sie gar nicht mögen. Solche Dinge machen das Thrillergenre attraktiv: Frei erfundene Figuren benennen besonders beiläufig wahre Motive aktueller Politik. Mit dem schönen Effekt, dass sie von der Leinwand herab auf einmal viel wahrer klingen als in der Realität.

So handelt „Die Dolmetscherin“ ganz nebenbei von der undankbaren Aufgabe der USA, den Weltpolizisten spielen zu müssen. Der verdeckte Heroismus dieser Tätigkeit spiegelt sich in den Berufen der beiden Hauptpersonen, für die gleichermaßen gilt, dass niemand ihre Arbeit bemerkt, wenn alles gut geht. Doch wenn etwas schief geht, sind sie schuld. Das ist bei der Dolmetscherin der Fall, die wie unsichtbar zwischen Regierungsvertretern vermittelt, und das gilt nicht weniger für den Sicherheitsbeamten, der auf den Schutz von Würdenträgern spezialisiert ist. Die erste Begegnung zwischen Silvia und Tobin verläuft in tiefem gegenseitigem Misstrauen. Aber die im Film angelegte Symmetrie ihrer Berufe deutet schon an, dass es im Weiteren auch darum gehen wird, dass die beiden ihre Gemeinsamkeiten entdecken.

Zwei Dinge kommen so in Pollacks Film zusammen: Die Thrillerhandlung verfolgt die Attentatsdrohung und inszeniert die Sicherheitsmaßnahmen als modernes Tanztheater aus Metalldetektoren, Sicherheitskameras und müden Beamten. Der Beziehungsplot bringt zwei Menschen einander näher – nicht mehr und nicht weniger. Ohne besonders innovativ zu sein, führt der Altmeister vor, was einen echten Thriller ausmacht: eine gewisse Handlungsdichte gepaart mit der richtigen Dosis Paranoia. Der Ton der einen Szene überlagert den der nächsten, Luftaufnahmen der imposanten UNO-Architektur lösen sich ab mit solchen von im Sonnenlicht blitzenden Autokolonnen, deren Türen sich gleichzeitig öffnen. In fast jeder Szene lassen sich Hinweise finden, die an späterer Stelle schlüssig wieder aufgenommen werden. Besonders darin zeigt sich Pollacks Old-School-Technik: Er baut darauf, dass der Zuschauer etwas im Gedächtnis behält, sei es ein Gesicht, ein Satz, oder ein Gegenstand.

Womit wir wieder bei den beiden Hauptpersonen wären und ihren gegenseitigen Entsprechungen. Das erste Gespräch enthüllt sie als Gegensätzlichkeit: Tobin achtet auf Gesichter, Silvias Ding sind Stimmen. Aber wenig später sieht man Tobin wehmütig die Stimme seiner Frau auf dem Anrufbeantworter abhören. Und was wir über Silvias Vergangenheit erfahren, wird mit Fotos belegt. So hält der Film seine eigene Bedeutsamkeit stets in der Schwebe.

Ginge es nur um das vermeintliche Attentat auf einen afrikanischen Präsidenten, der vor der UNO spricht, wäre „Die Dolmetscherin“ wahrscheinlich trotz all seiner Finessen ein langweiliger Film. Der Clou dieses Thrillers aber besteht darin, dass man am Ende die vielen überraschenden Wendungen und Plotpoints samt ihrer sorgfältigen Vorbereitung ganz vergisst. Was im Gedächtnis bleibt, ist dagegen die ungeheuer zarte Geschichte zwischen Sean Penn als Tobin und Nicole Kidman als Silvia. Zwischen den beiden passiert zu wenig, um als Romanze bezeichnet zu werden, und zu viel, um nicht doch von Liebe zu sprechen. Die meiste Zeit weiß man im Grunde gar nicht, was die beiden voneinander halten. Sie tauschen bedeutsame Sätze über afrikanische Bestattungsriten aus, über Tod und Rachebedürfnis und andere Nichtigkeiten. Aber wie sie sich anschauen, das gehört zum Erotischsten, was das Kino zeigen kann. Selten hat man in letzter Zeit eine intensivere Liebesszene gesehen, als die, in der nicht mehr zu sehen ist, als wie sich Silvia nur für einen Moment an Tobins Schulter schmiegt.

„Die Dolmetscherin“, Regie: Sidney Pollack. Mit Nicole Kidman und Sean Penn; USA 2004, 120 Min.