Der moderne Müntefering

Mit dem verstaubten Kampfbegriff vom Klassenkampf hat die Wirtschaftskritik des SPD-Chefs weniger zu tun als mit den modernen Theorien der Globalisierungskritik – er ist auf der Höhe der Zeit

VON HANNES KOCH

Unsere Wirtschaftsordnung und ihr gegenwärtiger Zustand haben den SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering zu Aussagen veranlasst, die derzeit als altmodisch, hausbacken und traditionalistisch verspottet werden. Harald Schmidt macht leichte Punkte, wenn er den großen Vorsitzenden anno 2005 in eine Reihe stellt mit Marx, Mao und anderen Urgroßvätern der Linken. Ohne mit der Sozialdemokratie allzu viel Mitleid zu empfinden: richtig ist das Gegenteil. Franz Müntefering bewegt sich auf der Höhe der Zeit und hat fünf Jahre globalisierungskritischer Bewegung produktiv verarbeitet.

Ab heute Abend feiert Attac Jubiläum. Vor fünf Jahren waren die Proteste von Seattle gegen die damalige Tagung der Welthandelsorganisation der Katalysator für den Aufschwung einer neuen, weltumspannenden, sozialen Bewegung. Diese richtet sich gegen die „neoliberale Globalisierung“, die alten Kategorien von Kapitalismus und Sozialismus hat sie überwunden. Die Globalisierungskritiker suchen sich einen Standpunkt in der Gegenwart, von dem aus sie die Zukunft neu definieren.

Münteferings Rede beim SPD-Programmforum am 13. April wird nun unter dem Rubrum „Kapitalismuskritik“ verhandelt. Und doch ist sie kein Rückfall hinter die Thesen des Godesberger Programms von 1959, mit dem die SPD ihre Ära der sozialistischen Systemkritik abschloss. Die Rede ist kein neues Anknüpfen an Klassenkämpfe, denen die Klassen abhanden gekommen sind, eher eine Verortung in den Begriffswelten der „Multitude“, die Tono Negri und Michael Hardt in ihrem sehr dicken Buch „Empire“ erschlossen haben. So sagt Müntefering, „ganze Unternehmen und Regionen“ würden marginalisiert werden, wenn die Gewinnlogik der transnationalen Unternehmen so richtig in Schwung kommt.

Da ist nicht mehr die Rede von scharf abgrenzbaren sozialen Schichten, die unter der „Macht des Kapitals“ zu leiden hätten oder sich ihr verweigern würden. „Multitude“, das ist bei Negri und Hardt die diffuse Versammlung der Widerständigen, die spüren, dass ihre Interessen nicht mit der Logik der Herrschenden kompatibel sind. So klingt es auch bei Müntefering.

In den vergangenen Jahren ist eine ganze Menge passiert. Millionen Menschen in Europa und anderen Kontinenten sind sich darüber klar geworden, dass sie die Marktwirtschaft ohne gesellschaftliche Institutionen, die jene regulieren könnten, nicht ertragen wollen. Ökonomie muss sich gegenüber einer demokratisch legitimierten Politik rechtfertigen, nicht umgekehrt. Das ist die zentrale Botschaft der Globalisierungskritiker. Und nichts anderes meint Müntefering, wenn er den Sozialstaat als „nicht entbehrlich“ bezeichnet.

Die SPD-Grundsatzprogrammatiker und der Vorsitzende hochpersönlich schweben nicht im diskursiven Vakuum: Die Debatte in der Wirtschaftswissenschaft hat sich gewandelt. Während bis zum Ende der 90er-Jahre noch die neoklassische Schule mit ihrer Vulgärform des Neoliberalismus dominierte, müssen deren Vertreter mittlerweile Rückzugsgefechte bestreiten.

Selbst im notorisch konservativen deutschen Sachverständigenrat für Wirtschaftsfragen sitzt mit Peter Bofinger mittlerweile ein Ökonom, der Staatstätigkeit nicht für per se kritikwürdig hält. Auch Aktionärsvertreter beschweren sich neuerdings darüber, dass manche Manager ihre Unternehmen im Sinne einer überzogenen Eigenkapitallogik regelrecht ausplündern. Kritik daran ist kein verirrter Traditionalismus, sondern entspringt einer gewissen politischen Verantwortung.

Ohne diese Diskussionen der jüngsten Zeit hätte Müntefering seine Rede so nicht gehalten. Schon gut, ja, in der praktischen Politik macht die Regierung anderes, als der Chef gerade verkündet hat. Und, klar, vor der NRW-Wahl wirkt die Rede wie ein letzter Appell an die Resttruppen. In der praktischen Politik macht die Regierung anderes, als der Chef gerade verkündet hat. Doch vielleicht sollten wir der Sozialdemokratie noch eine Chance geben. Wer weiß, vielleicht brauchen wir sie noch. Bei der Bundestagswahl 2014 oder 2018.