ACHSE DES EXPERIMENTS – VON TOBIAS RAPP
: Perfekter Heimstudio-Avantpop

Perfektion ist ein rares Gut – man muss nett zu ihr sein, sonst verflüchtigt sie sich wieder. „The Beast“ von Nathan Michel, einem Absolventen des Kompositions-Studiengangs der Universität von Princeton, ist eines dieser seltenen Alben, denen man mit angehaltenem Atem lauscht – schon ein Räuspern könnte den Bann brechen. Es sind zehn Stücke, die zwar den Formgesetzen des Popsongs gehorchen, aber in ihrer harmonischen Vielschichtigkeit und rhythmischen Komplexität gleichzeitig über diese hinausgehen. Manchmal passiert fast zu viel in diesen Stücken, doch Nathan Michel läuft nicht in die Falle anderer Avantpop-Projekte, sich auf die Brillanz seiner Ideen zu verlassen und seine Musik unter ihrer Anhäufung zu begraben – jeder Einfall hat den Raum, den er benötigt. Michel hat all die akustischen und elektrischen Gitarren, Bass, Schlagzeug, Marimbas, Flöten, Mundharmonika, Keyboards, Triangel und was es da noch so alles gibt, samt und sonders selbst eingespielt. Selbst der Gesang stammt von ihm. In Zeiten mit musikalisch experimentierfreudigeren Major-Plattenfirmen hätte man Nathan Michel Platten von Dionne Warwick produzieren lassen. Dass Ähnliches in absehbarer Zukunft nicht passieren wird, ist jedoch dank der Fortschritte der Studiotechnik leicht zu verschmerzen: Ohne größeren Verlust an Klangfarbe ist es heute möglich, eine Platte wie „The Beast“ allein und im Heimstudio aufzunehmen. Wenn alles gut läuft, wird dies die Popmusik des 21. Jahrhunderts.

Nathan Michel: „The Beast“ (Sonig/ Rough Trade)

Wunderbare Schlafzimmer-Kleinkunst

Die Musik von Coastal Café kann man sich vorstellen wie die Wiedergeburt von Garagenrock als Schlafzimmer-Kleinkunst. Die schwedischen Indierock-Kids Martin Lilja und Marilyn Petridean waren vier Jahre lang ein Paar und nahmen in dieser Zeit die 21 Stücke von „Old Cartoons“ auf. Sie hören sich an wie Lou Reed und Nico – in total schlecht sollte man hinzufügen, und das heißt einiges in Anbetracht von Nicos sagenhaft überschätzter Stimme. Das Schlagzeug trampelt vor sich hin wie ein Elefantenbaby, das abwechselnd mit Tranquilizern und Speed gefüttert wird, und die Gitarre – nun ja, die Gitarre ist verzerrt. Aufgenommen ist das Ganze in einem feuchten Pappkarton. So hört es sich zumindest an, in Wirklichkeit waren es die wechselnden Wohnzimmer von Lilja und Petridean, was aber irgendwie auf das Gleiche hinausläuft.

Dass „Old Cartoons“ trotzdem eine so bezaubernde Platte ist, liegt an zweierlei: Zum einen sind die beiden ganz einzigartige Songschreiber. Kein Stück ist länger als zwei Minuten, jedes die Skizze eines kleinen Gefühls, die Momentaufnahme einer Stimmung. Ob es der winterliche Blick aus dem Fenster ist („Snowman House“) oder der Wunsch nach einem Freund („Summer Friend“). Gerade der Dilettantismus der Aufführung verleiht diesen Stücken eine ganz eigene emotionale Wärme. Gern mag man den Angaben der Plattenfirma glauben, die beiden seien zu schüchtern gewesen, je über ihre Gefühle zu reden, und hätten im Zweifelsfalle lieber den 4-Trackrecorder angemacht.

Coastal Café: „Old Cartoons“ (Earsugar/Neuton)

Eigensinniger Hobbykeller-Acid

Man kann sich die Bedeutung des Roland-303-Bass-Synthesizers für die Neunziger ähnlich grundlegend vorstellen wie die des Wahwah-Pedals für die frühen Siebziger – mit seinem knarzigen Blubbern gab er einer Epoche den Signature Sound. In Anbetracht des gegenwärtigen Acid-Revivals ist es nur angemessen, auf Tim Van Leijden alias Like A Tim hinzuweisen, den Großmeister der Acidmaschine. Mit erstaunlicher Besessenheit hat er fast seine ganze bisherige Karriere damit zugebracht hat, die Möglichkeiten der paar Knöpfchen auf der 303 auszuloten.

Musste man sich für seine ersten Platten auf Djax Up Beats in den mittleren Neunzigern noch durch sein massives Unvermögen kämpfen, um ihre Eigenwilligkeit zu verstehen, hat Like A Tim spätestens seit der Gründung seines eigenen Labels Like Records zu einer wunderbaren musikalischen Sprache gefunden – vielleicht muss man auch einfach nur lang genug weitermachen, bis man verstanden wird. Für sein Album „Little Acid Tracks“ baute er Stücke zusammen, die das Acidblubbern den intimen Geist der Kammermusik atmen ließen. Für „Bass Girl“ lud er Gina D’Orio ein, die eine Hälfte des Berliner Neo-Sixties-Krawallduos Cobra Killer, die Gesangsspuren für Coverversionen von Popklassikern wie „Leader Of The Pack“ oder „Where Did Our Love Go“ zu singen. Dazu blubberte er den Backing Track. Für seine neueste, unbetitelte EP hat er vier fast schon tanzflächenkompatible Stücke ausgewählt. Das Cover ziert wie immer ein Selbstporträt des ehemaligen Graffitiwriters.

Like A Tim: „Untitled“ (Like 06/Clone)