Lebewesen aus der Retorte

Gleich mehrere Forschergruppen versuchen derzeit, aus einfachen Chemikalien „primitives Leben“ zu erzeugen

Mehrere recht gut bemittelte Forschergruppen im kalifornischen Venice, in Harvard, Chicago, Rom, Bochum und Los Alamos haben sich keine leichtere Aufgabe gestellt als die Schaffung einer Art künstlichen Lebens aus unbelebten Chemikalien. Was einst als göttlicher Schöpfungsakt angesehen wurde, ist damit in die Niederungen der Biotechindustrie gelangt. Die Wissenschaftler würden danach besser verstehen, was Leben wirklich ist, was es bedeutet, lebendig zu sein, und ob es Abstufungen von Lebendigsein gibt.

Es ist kaum verwunderlich, dass sich stark religiös orientierte Menschen bei dem Gedanken an menschliche Schöpferkraft unbehaglich fühlen, denn Gott würde in seiner Erschafferrolle durch Irdische abgelöst. Theologen haben den Gedanken aber bereits in ihr Denkgebäude einbezogen, indem sie sagen, wir alle seien Teil der Natur und so gesehen nur Leben, das mehr Leben schafft. Dieser Vorgang heiße Evolution und laufe seit vier Milliarden Jahren ab.

Kritiker warnen dagegen vor einem Entweichen des synthetischen Lebens aus dem Labor und seinem Missbrauch. Maßgeschneiderte belebte Materie würde andererseits weitaus größere Möglichkeiten etwa zur Herstellung von Wasserstoff oder in der Medizin bieten als herkömmliche Organismen wie Bakterien. Die Protagonisten der Erzeugung künstlichen Lebens sind denn auch in Aufbruchstimmung, sehen darin ein sehr großes technisches Potenzial, vergleichbar demjenigen zu Beginn der industriellen Revolution, und sie sehen vor allem eines: das große Geld.

Am Anfang stand die Frage: Was muss etwas mindestens tun oder sein, um als lebendig bezeichnet werden zu können? Die meisten Forscher haben sich heute darauf verständigt, dass die Darwin’sche Evolution den Unterschied zwischen belebt und unbelebt ausmacht. Demnach hinterlässt Leben stets Nachkommen, deren Eigenschaften durch natürliche Auswahl verändert werden. Dies erfordert mindestens drei Dinge: ein Molekül, das Erbinformationen trägt, einen elementaren Stoffwechselprozess, der der natürlichen Auswahl unterworfen ist, sowie einen Behälter, in dem beide untergebracht sind.

Das irdische Leben basiert auf Wasser, oder genauer gesagt, einem wässrigen Gel aus Molekülen, die von einer öligen Membran, der Zellwand, eingeschlossen sind, durch die Stoffwechselprodukte mithilfe verschiedener Eiweißstoffe hindurchtransportiert werden. An diesem Vorbild müssen sich die Erschaffer künstlichen Lebens orientieren und wegen des Umfangs und der Schwierigkeit der Aufgabe praktisch bei null beginnen.

„Als Träger der Erbinformation ist zunächst eine Peptidnukleinsäure (PNA) vorgesehen, die dieselben „Buchstaben“ des genetischen Codes verwendet wie die DNA, aber in zwei Formen auftritt. Die eine ist fettlöslich, die andere wird auch von Wasser angezogen. Dieses unterschiedliche Verhalten ermöglicht die Bildung und Trennung von PNA-Doppelsträngen und damit eine rudimentäre Art der Vererbung.“

Der Stoffwechsel soll mit Chemikalien beginnen, aus denen Fettsäuren aufgebaut werden können. Deren Tropfen sollen ab einer bestimmten Größe in zwei Hälften zerfallen, was das Prinzip der Zellteilung erfüllt. Diese Komponenten befinden sich, bildlich gesprochen, in einem Reagenzglas. Die darin ablaufenden Prozesse sowie die Zuführung kleinster Mengen von Chemikalien werden im Rahmen eines eigenständigen Forschungsprogramms mit der Bezeichnung Pace (Programmable Artificial Cell Evolution) von Computern gesteuert und überwacht. Nachdem Wachstum und Reproduktion in Gang gekommen sind, sollen durch natürliche Auslese diejenigen PNA-Sequenzen bevorzugt werden, die sich am schnellsten bilden.

Falls das Ganze wie geplant abläuft, stellt sich die Frage, ab wann synthetisches Leben als gegeben anzusehen ist. Darauf antworten die Forscher, dass es keine klare Trennungslinie zwischen unbelebt und belebt gibt. Vielmehr müsse man sich eine Grauskala vorstellen und immer messen, wie dunkel das Grau ist. Desgleichen liegen die Zeitangaben bis zu einem ersten, als Erfolg zu bezeichnenden Ereignis auf einer mit drei Jahren beginnenden, nach oben offenen Zeitskala. JÜRGEN WOELKI