Tod eines Kritikers

Der Chef der germanistischen Fakultät im Irak wurde in Bagdad ermordet – wie vor ihm hunderte anderer Professoren, Ärzte, Lehrer und Beamte

VON CHRISTOPH REUTER

Professor Fuad Ibrahim Mohammed, der Chef der germanistischen Fakultät an der UniversitätBagdad, war ein heiterer Sisyphus. Er hatte Jahrzehnte unter Saddam Hussein ausgehalten und hielt immer noch aus, während um ihn herum Kollegen erschossen wurden oder flohen. Ob er keine Angst habe, fragte ich ihn, als wir uns im Dezember das letzte Mal sahen. „Ach, wer sollte etwas gegen mich haben?“, fragte er zurück. Aber dann erzählte er von seinem Freund Sabri al-Bayati, dem Geografieprofessor, den Unbekannte drei Monate zuvor erschossen hatten. „Gegen den konnte auch niemand etwas haben. Aber wenn ich gehe, wer bleibt? Ich habe nicht so lange ausgehalten, um jetzt wegzurennen.“

Am Dienstagmorgen ist er von Unbekannten vor seinem Haus ermordet worden. Die irakische Wirklichkeit ist nicht so, wie sie in den Nachrichten scheint. Sie ist schlimmer. Denn fast niemand berichtet über die schwarz gekleideten Todesschwadronen, die mit wohldosierter Stetigkeit alle paar Tage einen Arzt, einen Professor, einen Schuldirektor, einen städtischen Verwaltungschef umbringen. Rund 80 Professoren in zwei Jahren, 100 Ärzte, die Beamten und Lehrer zählt schon keiner mehr, und es sind keine Morde für Geld oder aus Zufall: Es sind Hinrichtungen, sorgsam geplant, professionell ausgeführt. Die Täter kennen die Wege der Opfer, zwei, drei Killer kommen, schießen, verschwinden. Manchmal warten sie, ob jemand zu Hilfe eilt. Den erschießen sie dann auch.

Es sind weder Saddams Atomwissenschaftler noch die treuesten Anhänger der US-Verwaltung, die ermordet werden, sondern Literaturwissenschaftler, Historiker, Linguisten, Wirtschaftsexperten, Geografen, Agrarwissenschaftler, die meisten von ihnen Sunniten und ehemalige Parteimitglieder der untersten Ebene. Sonst wären sie nicht Professoren geworden oder geblieben. Es geht um nichts Geringeres als die Ausrottung der irakischen Intelligenz.

Keiner kann beweisen, wer die Täter sind. Die Polizei zuckt die Schultern. Die US-Truppen, die sonst jeden verhaften, der ihnen auf den Panzer spuckt, kümmern sich nicht um die Mörder jener Menschen, die das Rückgrat der Zukunft wären. Es sind, so viel zum Ergebnis mehrmonatiger Recherchen, konkurrierende Todesschwadronen am Werk: und zwar nicht nur jene der Dschihadisten und alten Kräfte, sondern auch jene der neuen Herren, schiitische Killerkommandos, die ihre Listen abarbeiten. Sie betreiben die ethnische Säuberung der irakischen Elite, denn die war sunnitisch und ist es auch mit dem politischen Machtwechsel geblieben. Bislang. Denn jedem Professor, der ermordet wurde, folgen Dutzende mit der Flucht ins Ausland, mehr als 1.000 sollen den Irak in alle Richtungen verlassen haben. Der glänzende Ruf, den Iraks Universitäten bis in die Siebzigerjahre genossen, er erlebt einen letzten Abglanz im Exodus.

Professor Fuad Ibrahim Mohammed wollte nicht gehen. Unter Saddam, während des Embargos, hatte er mit stiller Hartnäckigkeit Bücher beschafft, Kollegen vor dem Geheimdienst beschützt. Er war kein Widerstandskämpfer, sondern Mitläufer. Nicht weiß, nicht schwarz, aber unter den Grauen einer der Hellsten. Als Plünderer nach dem Krieg die Bibliothek brandschatzten, trieb er zusammen mit dem deutschen Botschafter Bernd Erbel 11.000 neue Bücher als Spende aus Deutschland auf. Er schwärmte von Mann, Brecht, Schiller, ermutigte seine letzten Studenten, den gefährlichen Weg zur Uni auf sich zu nehmen. „Ich war gegen den Krieg, aber gerade jetzt dürfen wir doch nicht aufgeben.“

Jetzt starb er, weil er nichts weiter wollte, als seinen Studenten Deutsch beizubringen. Mit Goethe gegen die Apokalypse. Ob er daran glaube, wisse er selbst nicht, sagte er, als ich seiner letzten Klasse eine Stunde lang über Deutschland erzählte. „Wissen Sie, was ich gerade durchnehme?“, fragte er danach und lachte bitter: „ ‚Tod eines Kritikers‘. Von Walser. Passt ja, gewissermaßen.“ Mit ihm starb mehr als der Chef einer sprachwissenschaftlichen Fakultät. Mit ihm stirbt wieder ein Stück mehr jenes Irak, der zu wünschen wäre. Eines Irak, der Tag für Tag weniger existiert, weil jeder, der kann, ihn verlässt.

Der Autor ist Stern-Reporter und war im Februar das letzte Mal in Bagdad