Todesmarsch in die Freiheit

Als das KZ Sachsenhausen gestern vor sechzig Jahren von der Roten Armee befreit wurde, war das Lager bereits geräumt worden. 30.000 Häftlinge wurden von SS-Wachen seit dem 21. April 1945 Richtung Westen getrieben. Wer aufgab, wurde erschossen. Peter Heilbut, damals 25, war einer der Gefangenen auf dem langen Treck ins absolut Ungewisse

VON HEIKE HAARHOFF

20. April. Seit Tagen kein Ausmarsch mehr zu den Arbeitskommandos. Seit Tagen immer weniger an Essenzuteilung. Seit Tagen Kanonendonner der sich nähernden Roten Armee. Was braut sich da zusammen? Abmarsch? Oder Liquidierung?

Die Aprilsonne wirft warme Töne auf Peter Heilbuts Gesicht, Violett, Blau, Grün, Gelb, Rot. Ein Kristall im Wohnzimmerfenster bricht das Licht in seine Spektralfarben. In Hamburg beginnt der Frühling. Es ist der Frühling sechzig Jahre danach, es ist der Frühling, in dem sein Buch über Sachsenhausen fertig werden soll, es ist der Frühling, in dem Peter Heilbut manchmal nicht weiß, was schlimmer ist, die Chemotherapie oder der Krebs.

Wir würden zusammen gehen, Hans Schulz und ich. Hans und ich sind seit einem Dreivierteljahr zusammen auf dem Arbeitskommando „Kraftfahrtechnische Versuchs-Abteilung“, KVA, und dort in der Schirrmeisterei. Hans Schulz, Brille auf der Nase, Lachfältchen, etliche Jahre über fünfzig, und ich, der ich vor einer Woche meinen Fünfundzwanzigsten überschritten habe. Ganz gut, der Gedanke. Man hat einen zur Seite.

Ich müsste mich an den Computer setzen, aber ich habe die Kraft nicht“, sagt Peter Heilbut. Vor ein paar Tagen ist er 85 geworden. Immerhin, die letzten Stunden im KZ als Gefangener 65615, die Angst, die Ungewissheit, der permanente Hunger, dann das jähe Wecken durch die SS in der Nacht zum 21. April 1945 und der Befehl zum Aufbruch, die zwölf Tage und Nächte auf den Straßen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns, getrieben, gehetzt, bedroht, bis zu seiner Flucht, seiner glücklichen Flucht am 2. Mai 1945, dieses mehr als hundert Seiten lange Kapitel hat er abgeschlossen. Mehr noch: Es ist gedruckt, als Broschüre erhältlich, pünktlich zum 60. Jahrestag des Kriegsendes.

21. April, Tag 1 des Marsches. In angedrillt ausgerichteter Fünferreihen-Präzision verlässt Fünfhundertschaft hinter Fünfhundertschaft das Konzentrationslager. Noch stapfen die Beine brav voran. Wohin? In welche Zukunft? In die Freiheit? In den Tod? Links und rechts zur Seite SS. Bewaffnet mit Karabinern und Maschinenpistolen. Bei Fuß Bluthunde, angeleint, gebändigt vorerst.

Zu Tode marschieren sollten sich die entkräfteten KZ-Häftlinge, das war der Plan der Nazis, als klar wurde, dass der Krieg verloren war. Bereits im Sommer 1944 hatte der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, angesichts der heranrückenden Alliierten die Räumung für alle KZs zentral befohlen und angeordnet, kein Häftling dürfe dem Feind lebend in die Hände fallen; Einzelheiten überließ er den jeweiligen Lagerkommandanten. Für Sachsenhausen wurden verschiedene Varianten der Vernichtung in Betracht gezogen. Sprengung? Ausgeschlossen, die Zivilbevölkerung lebte wenige hundert Meter entfernt vom Lager. Erschießung der Gefangenen in der Grube eines nahen Klinkerwerks? 35.000 Gefangene erschießen? Was für ein Blutbad! Ertränken der Häftlinge in einem See? Die Idee scheiterte an Transportkapazitäten. Machbar schien dagegen, was der Lagerkommandant Kaindl Evakuierung nannte: Am 21. April 1945 wurden mehr als 30.000 der etwa 35.000 Lagerinsassen, in Marschkolonnen von je 500 Gefangenen, zu Fuß in Richtung Nordwesten getrieben. Es war der einzige Korridor, der den Nazis und ihren Opfern noch offen stand. Häftlinge, die trotzdem überlebten, sollten, so die Überlegung, bei etwaigen Verhandlungen mit den Westalliierten als Faustpfand eingesetzt werden.

Was uns in Eile zugeteilt wurde beim Abmarsch: 1/3 Brot, 1/3 Dose Leberwurst, von Hans gewissenhaft dreigeteilt. Später ist zu erfahren, dass die ersten Marschblöcke ein ganzes Brot und eine ganze Dose Leberwurst pro Kopf bekamen, die letzten leer ausgingen. „Es muss für drei Tage reichen“, gibt man uns Eindrittelbesitzern zu wissen.

Peter Heilbut aber ist damals, wie er schreibt, „ins Leben gelaufen“. Es ist eine Motivation, heute trotz der Krankheit weiterzumachen, das restliche Manuskript über die Jahre im KZ ebenfalls fertig zu stellen, es in Buchform zu bringen, es ist ein Versprechen. Er hat es Lindgart Heilbut gegeben, seiner Frau, die auf dem Sofa neben ihm sitzt und für ihn weiterredet, wenn er erschöpft ist oder für die Erinnerung keine Worte findet. Und er hat es seinen Kindern Friedemann, Bettina und Jörn gegeben, vor allem Friedemann, dem ältesten Sohn, der Geschichtslehrer war und den Vater immer wieder gedrängt hatte, die Geschichte der NS-Verfolgung aufzuschreiben, die Familiengeschichte der Heilbuts aus Freital bei Dresden. Friedemann Heilbut starb 1986, mit 31 Jahren.

Kaum ist der Zug, ist unsere Fünfhundertschaft aus Oranienburgs Bebauung heraus, kaum im freien Gelände, da passiert es zum ersten Mal. Einer, einige Reihen vor uns, bricht zusammen, fällt, liegt da. Liegt da, in Erwartung, wie es nun weitergehe. Wirklich schon am Ende? Oder gibt er sich der simplen Hoffnung hin, dass weitermarschiert und er hier liegen- und zurückgelassen werde? „Das Ganze halt!“ Auf SS-Befehl wird er beiseite getragen, neben den Weg gelegt. Ein Schuss knallt. Wir haben den ersten Toten.

Peter Heilbut war knapp 13, als er zum ersten Mal hörte, dass seine Familie eine jüdische sei. Das war am 8. März 1933, Hitler regierte seit ein paar Wochen, und auf dem Wettiner Platz in Dresden, vor dem Gebäude der Dresdner Volkszeitung, stapelten SA-Männer Literatur zu einem Scheiterhaufen und ließen das „undeutsche Schrifttum“ in Flammen aufgehen. Anschließend zogen sie weiter nach Freital, umstellten das Haus in der Südstraße 11, in dem der für das politische Ressort verantwortliche Redakteur Kurt Heilbut mit seiner Frau Clara und den drei Kindern lebte, schlugen die Fenster ein und warfen Geschosse in die Wohnung im ersten Stock. Eins traf Peter Heilbuts Mutter. Es war nur eine Fleischwunde, aber dass die Welt von nun an eine andere war, das verstand Peter Heilbut sofort.

In die Dunkelheit hinein, im Dunkeln weiter. Irgendwann biegen wir ab und: „Halt, Rast für die Nacht.“ Funzliges Licht blinkt hier und da. Fenster? Ein Dorf? Wir legen uns nieder, so gut es halt geht, in die Decke gehüllt, das selbst gebastelte Beutelchen unter den Kopf. Und dann: Schlaf, wenn du kannst.

Tag 2. Nichts gegessen bisher. Wie lange nicht? Gestern den ganzen Abmarschtag lang nichts. Der Hunger ist jetzt spürbar dabei mitzumarschieren. Und nichts getrunken!

Mehrfach wurde der Vater in den darauf folgenden Jahren verhaftet, er war Jude, er war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, er war in hohem Maße gefährdet. Er weigerte sich, vor den Nazis zu weichen. Welche Rolle hatte denn Religion in seinem bisherigen Leben gespielt? Hatten er und seine Frau Clara, eine getaufte Christin, irgendeinen Gedanken daran verschwendet, als sie heirateten? Als er begriff, dass es darum gar nicht ging, war es zu spät. Seinen jüngsten Sohn Hellfried schickte er 1938, elfjährig, mit einem Kindertransport noch nach England. Er hatte eingesehen, dass Emigration die einzige Überlebenschance sei. Der übrigen Familie gelang die Flucht nicht mehr. Peter, der älteste Sohn, wurde am 12. März 1943 in Dresden von der Gestapo verhaftet und ein paar Wochen später ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, nachdem er sich geweigert hatte, Namen von Freunden der Familie zu verraten. Für die Mutter, nun mit der Tochter Liesel allein, begann ein Zyklus von Verhaftungen, Verhören, Freilassungen. Kurt Heilbut wurde am 30. April 1943 in Auschwitz ermordet.

Tag 3. Die Straße selbst ist menschenleer, einmal abgesehen von uns Marschierenden. Sicherlich hat ein Vorauskommando der SS dafür gesorgt, dass alle Neugierigen hinter den Haustüren zu verschwinden haben. Da glotzen sie jetzt hinter den Fensterscheiben zu uns heraus, drücken sich die Nasen platt vor Neugier, Staunen oder Entsetzen. Und kein mutiger Bauer ist da, der unsere Näpfe mit Wasser zu füllen wagte. Da vorne kippen, kurz nacheinander, zwei Männer um. Lassen sich fallen. Vielleicht in der Hoffnung, dass man hier im Dorf, vor diesen zahllosen, aufgerissenen Augen, ein öffentliches Exekutieren nicht würde wagen können? Zwei Schüsse peitschen herüber.

Heute gibt es die EU, heute ist die Gemeinschaft enger“, sagt Peter Heilbut. Das gibt ihm die Zuversicht, dass eine Wiederholung von Verbrechen, wie sie die Nazis begangen haben, in Deutschland ausgeschlossen ist. „Die anderen Länder würden heute etwas unternehmen.“ Er klingt sanft, beinahe unbeteiligt. Er, der KZ-Überlebende, sitzt auf dem Sofa und wägt Wahrscheinlichkeiten ab. So als gehe es hier um wissenschaftliche Theorie. Und dann blickt er plötzlich irritiert auf. Denn was ist das für eine Frage, auf die er da antwortet, ob er Angst habe vor einer Wiederholung der Geschichte. Die Angst beginnt doch viel früher. Sie beginnt, wenn er morgens die Zeitung aufschlägt und liest, dass eine rechtsextreme Versammlung richterlich genehmigt wurde. Sie beginnt, wenn er mittags die Nachrichten einschaltet und von Bewährungsstrafen für junge Erwachsene hört, die eine Synagoge anzünden wollten. Sie beginnt, wenn er erfährt, dass die NPD jetzt wieder in Parlamente gewählt wird. Diesmal zittert die Stimme. Er sagt: „Es ärgert mich maßlos.“

Tag 4. Da, mit einem Schlag blicken wir auf: An einem unteren, starken Ast hängt einer. Schlinge um den Hals, lang gestreckt, bewegungslos. Ein Zivilist, männlich, um die 50. Offene, in Starrheit verharrende Augen. Unnatürlich langer Hals. Weit bleckt die Zunge aus dem geöffneten Rachen. Wie oft habe ich das mit ansehen müssen in den vergangenen zwei Jahren! Man hatte für so eine Strangulationszeremonie nach dem abendlichen Rückmarsch vom Arbeitskommando stundenlang auf dem Appellplatz stehen müssen. Als einer unter dreißig- oder vierzigtausend. Frierend oder durchnässt oder beides, erschöpft vom langen Tag beim Arbeitskommando, hungernd sowieso. Alle mit Front auf den Galgen, manchmal wurden mehrere zugleich gehenkt. Man lässt es über sich ergehen; bald ist es nichts Aufregendes mehr. Eher dass einen der Gedanke beunruhigt: auch dich kann es treffen.

Wie lange hat er nicht darüber sprechen können? Jahre, ungezählte Jahre. „Ich hatte gar nicht den Drang, irgendwas loszuwerden“, sagt Peter Heilbut. Es fragte ihn ja auch niemand, und vielleicht wäre es dabei geblieben, hätten ihn seine Albträume nicht verraten, hätte seine Frau nicht beharrlich darauf hingewirkt, ihr preiszugeben, welche Vergangenheit ihn da nachts neben ihr in Todesangst aufschreien ließ. Er sieht seine Frau an. Es bedarf keiner Worte. Sie kennen sich schon so lange, es ist klar, dass sie für ihn erzählen wird. Und da legt sie auch schon los, zieht einen mitten hinein in diese hoffnungsfrohen beginnenden 50er-Jahre, erstmals ohne Hunger, hinein in dieses riesige Glück, das sich am Hamburger Pädagogium für Musik entwickelte. Denn ein riesiges Glück war es ja, ausgerechnet diesem Klavierstudenten Peter Heilbut ein paar Semester über ihr zu begegnen, Peter Heilbut, der eigene Stücke komponierte, vierhändig, für sich und für sie: eine junge Frau aus einer Familie, die nicht betroffen war vom nationalsozialistischen Rassenwahn und die schwierigen Kriegsjahre in einem kleinen Ort nahe Hamburg verbracht hatte. Dessen Bevölkerung hatte die Diktatur relativ unbeschadet überstanden. Er war sieben Jahre älter als sie, der Krieg, sagte sie sich, viele Männer waren weg und holen nun ihre Ausbildung nach. Aber das war es nicht, was sie beeindruckte: „Er war kein Grünschnabel.“

Tag 5. Unsere Straße mündet in eine breitere. Und was sich auf dieser Straße abspielt, das ist irritierend und wird von uns fast schockartig wahrgenommen. Was sich dort ereignet, ist nichts anderes als des einstmals stolzen Deutschlands Katastrophe. Im Miterleben greifbar, aber kaum noch fassbar. Vor uns und bald neben uns: Flüchtlingsströme, Flüchtlingsströme, Flüchtlingsströme. Zwischendrin das, was von einer geschlagenen, erniedrigten Armee übrig ist. Soldaten, mit übergeschnallten Gewehren noch oder schon ohne. Vereinzelt Militärfahrzeuge. All diese vordem ach so sieggewohnte Soldateska! Sieht sich nun ärgerlich behindert in ihrer hastigen Flucht vor den Russen. Aber wir sind es, die weichen müssen, natürlich. Also weg von der Straße, die etwas erhöht läuft. Runter ins Waldgebiet. Kiefern, hier in märkischer Heide. Durch das Überwechseln ist jede Ordnung dahin. Die SS spielt verrückt: Die Hunde lassen sich anstecken. Ob es einigen Häftlingen aus den vorderen Reihen gelang, sich davonzumachen, schnell, schnell im Flüchtlingstumult zu verschwinden?

Peter Heilbut hatte Lebenserfahrung – welche, das erschloss sich der Studentin Lindgart Klaus erst allmählich, konnte sich ihr erst allmählich erschließen. Sie sagt: „Ich schwöre, ich habe nicht gewusst, was ein KZ ist.“ Und dass er erzählt hatte, sein Vater sei tot? „Warum sollte ich da nachbohren und Wunden aufreißen, es waren doch so viele Väter nicht aus dem Krieg zurückgekommen.“ Sie war wirklich ahnungslos, so kurz nach dem Krieg. Vielleicht sind es diese anfängliche Naivität und Unbeschwertheit, denen die Beziehung bis heute ihre Stabilität verdankt. Lindgart Heilbut sieht ihren Mann an. Sie sagt: „Du warst für mich immer der, den ich mochte. Ich habe dich nicht mit dem Schrecklichen identifiziert.“

Erst nach und nach weihte ihr Mann sie in seine Vergangenheit ein. Sie wollte ja wissen, wer er war, woher er kam, und sie sollte es auch wissen, keine Frage. Aber das Sprechen darüber fiel ihm schwer. Sie sagt: „Ich habe eine längere Zeit gebraucht, das ganze Ausmaß dieses Leids zu überblicken.“ Über ein Jahr waren sie schon verheiratet, als sie endlich ihre erste gemeinsame Wohnung beziehen konnten. Lindgart Heilbut fand, dass sie eine glückliche Frau sei. Solange ihr Mann wach war. Denn im Schlaf wälzte er sich hin und her, schrie auf, krümmte sich wie vor Schmerz. Sie wusste, er leidet immer noch, und sie würde sehr behutsam vorgehen müssen mit ihren Fragen.

Tag 7. Am Nachmittag geschieht es. Da war eben noch die ganze Aufmerksamkeit auf ein Flugzeug gerichtet, auf den mahlenden Klang von Propellermotoren ganz in unserer Nähe. Prompt war von hinten zu hören: „Das sind Russen!“ Was da wohl jetzt … In dem Augenblick knickt mir der rechte Fuß um! Mit einem gellenden Schmerzensschrei stürze ich zu Boden. Tränen schießen aus den Augen. Ich will wieder hoch, aber der Fuß trägt mich nicht. Ich stütze mich mit der rechten Hand am Boden ab, geh aufs Knie, versuche hochzukommen, nur mit, nur mit, nur weiter mit! Nur nicht zurückbleiben! Aber der Fuß knickt wieder weg, mit wahnsinnigem Schmerz. Aber jetzt verliert der SS-Mann die Geduld. Mit Kolbenstößen und kategorischem „Weiter, weiter!“ werden die drei oder vier, die bei mir ausharrten – Hans Schulz, der Schwabe, der Italiener, der Ungar mit dem bandgeflickten Schuh –, dazu gebracht, die Beine wieder in Bewegung zu setzen. Mich, der ich mit schmerzverzerrtem Gesicht und keuchendem Atem auf einem Bein dastehe, lässt er unbehelligt. Mich würden die da hinten erledigen. Und nun sind die letzten heran. Ein, mein vielleicht letzter Versuch. Ein Versuch, der jetzt über Leben und Tod entscheidet. Wie mit Dolchen wühlt es im Fußgelenk. Aber ich komme mit. In letzter Reihe, man macht mir Platz, hält mich auch mal am Arm. Mit der letzten Reihe erreiche ich wahrhaftig das Halt zur Nacht.

Peter Heilbut steht auf. Es strengt ihn an, sich erinnern zu sollen an Gefühle und Gedanken, die sechzig Jahre zurückliegen. Falls es sie je gegeben hat. Denn eins steht fest: Wer alle Kraft darauf verwenden muss, ein Bein vor das andere zu setzen, wer permanent damit rechnen muss, in der nächsten Minute erschossen zu werden, der hat keine Muße für ausgeklügelte Fluchtpläne oder Überlegungen für ein Leben in Freiheit. „Ich habe gar nichts gedacht“, sagt Peter Heilbut. Dass er dennoch so detailliert den Verlauf des Marsches schildern kann, verdankt er seinen Notizen aus dem Jahr 1945. Ein Hamburger Verlag hatte damals KZ-Überlebende gesucht, die bereit waren, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Peter Heilbut lebte in Hamburg. Seine Mutter hatte sich kurz vor Kriegsende vor der Dresdner Gestapo hierher flüchten können, es gab Freunde, Peter Heilbut erreichte sie Ende Mai 1945. Er machte sich an die Arbeit. Es ging nicht. Er konnte Begebenheiten schildern, sicher, aber es fehlte ihm jede Distanz. Er verstaute sein Manuskript, sechzig maschinengetippte Seiten, in einer Kiste. Jahrzehntelang machte sie jeden Umzug mit. Unausgepackt. Erst vor wenigen Jahren hat er die Kiste geöffnet. Er war jetzt bereit, das Buch zu schreiben: „Das Geschehene aufzuschreiben war eine rein schriftstellerische Tätigkeit.“

Tag 8. Ich merke nach und nach, ich schaffe es nicht. Die Sachen, die ich an mir trage, machen mir Pein. Vor allem die Decke, die an mir hängt und von Stunde zu Stunde immer beschwerlicher wird. Bei einem der kurzen Stopps streife ich die Bänder von den Rollenenden und hebe die Decke von der Schulter. Kurz entschlossen fliegt sie zur Seite hin weg. Sie wird mir fehlen heute Nacht, und wer weiß, wie viele weitere Nächte noch. Wenn ich die nächste Nachtrast überhaupt noch lebend erreiche.

Die Stiefel haben ihm das Leben gerettet, Walter Carlsens Stiefel. Der Norweger hatte sie ihm vermacht, bevor er Sachsenhausen vorzeitig im Frühjahr 1945 verlassen durfte. Das schwedische Rote Kreuz hatte ausgehandelt, dass die skandinavischen Häftlinge freikamen.

„Auch im KZ gab es Freundschaft“, sagt Peter Heilbut. Die Stiefel waren ihm zwei Nummern zu groß, aber für den angeschwollenen Fuß kamen diese zwei Nummern einem Geschenk des Himmels gleich. 1951 fand Peter Heilbut seinen alten Freund über einen norwegischen Suchdienst wieder. Er lebte in Oslo. Peter Heilbut fuhr hin. Er blieb ein Vierteljahr, lernte ein wenig Norwegisch von Walter Carlsens kleiner Tochter Grete, spielte Klavier. Er sagt, dass er die Zeit dort sehr genossen habe. „Ich wurde sehr freundlich von der Familie aufgenommen, wir besuchten viele Museen.“ Und die gemeinsame Zeit im KZ? Der umgeknickte Fuß, die rettenden Stiefel? Wie redeten sie darüber? Allein? Mit der Familie Carlsen, mit Freunden? Peter Heilbut blickt verständnislos auf. „Nein“, sagt er. „Dieses Kapitel“, er bricht den Satz ab, überlegt, nimmt ihn wieder auf, „haben wir komplett ausgespart.“

Tag 9. Dann kommt uns aber, bei Dunkelwerden, ein erstaunliches Phänomen in den Blick! Eine Fata Morgana? Eine Fieberfantasie? Der Marsch ist gestoppt. Und was uns dort, vor uns, weit voraus, in die Augen kommt, sind Rotkreuzwagen [der Schweiz; Anm. d. Red.]. Wahrhaftig: Rotkreuzwagen, umwuselt von Figuren in blauweiß gestreifter Häftlingskleidung. Sichtbar wird da mit Ellbogen und Einsatz letzter Kräfte um etwas gekämpft, was ausgeteilt wird. Undeutlich wohl in der Dämmerung des Abends, aber unzweifelhaft ist überdies zu erkennen, dass man entkräftete Häftlinge in die Wagen hebt und dann – und dann mit ihnen davonfährt! Das ganz und gar Unbegreifliche dabei: offensichtlich unbehelligt!

Er geht die Treppe hinauf in den ersten Stock, vorbei an den Aquarellen seiner Frau, mit denen er die Wände geschmückt hat, in das Klavierzimmer. Lindgart Heilbut folgt ihm. Zwei Flügel stehen nebeneinander, der Yamaha ist seiner, der Blüthner gehört seiner Frau. Es gibt keinen Einsatz, sie spielen einfach los, vierhändig, „Tierisch-Menschliches“, „Städtetour“, „Mini-Suiten“, fröhliche, ernste, anspruchsvolle Kompositionen, seine Kompositionen. Peter Heilbut grinst. „Das Komponieren mache ich, das Kritisieren macht sie.“

Tag 10. Ich habe noch Hans’ entschlossenes „Komm!“ im Ohr. Vorwärts in humpelndem Lauf, meines geschwollenen Fußes nicht achtend. Heiseres, krächzendes Schreien der ausbrechenden Hungerleider. Befehlsgebrüll der perplexen und spät reagierenden Posten. Schlägereien, Tumult. Es gibt kein Halten mehr. Die Masse stürzt sich in wildem Toben zur Seite, dem Lastwagenwrack entgegen. Mittendrin ich. Ich habe einen der Säcke erreicht, doch zum Zugreifen komme ich nicht. Die gierig drängende Masse hinter, dann über mir drückt mich zu Boden. Ein geplatzter Zuckersack ist unter mir. Ich liege in Zucker, Zucker, Zucker. Mein Körper, mein Kopf wird in den Zucker hineingepresst von den auf mir Liegenden. Mit Gewalt kann ich mein Gesicht zur Seite drehen, um nicht zu ersticken.

Klavier zu spielen war sein Lebenswunsch. Er ist in Erfüllung gegangen. Trotz des Studienverbots unter den Nazis in den 30er- und 40er-Jahren. Trotz der harten Arbeit im KZ, die ihm Frostbeulen an den Händen brachte. Peter Heilbut war von 1952 bis 1985 Lehrer an der Staatlichen Jugendmusikschule in Hamburg und von 1975 bis 1990 Dozent an der Hochschule für Musik. Seinem Traumberuf musste sich alles andere unterordnen. Die Mitarbeit an einem Archiv über das KZ Sachsenhausen, die er ablehnte. Die Auseinandersetzung mit der SPD, in die er nach dem Krieg im Gedenken an seinen Vater eingetreten war und die er wegen eines Streits um einen Hamburger Bürgermeister lieber verließ, anstatt die Konfrontation zu suchen. „Ich bin ein politisch denkender Mensch“, sagt er, „aber nicht ein politisch agierender.“ Lieber hat er Lehrwerke für Klavier und Blockflöte veröffentlicht, Komponisten ausgebildet, Klavierkonzerte im Rundfunk gegeben und sich nicht bloß Freunde unter seinen Kollegen gemacht, als er, der Musikwissenschaftler, die bisherige frühkindliche Musikpädagogik ablehnte und statt dessen erklärte: „Die Methode ist das Kind.“ Dort, wo das Kind besondere Freude zeige, müsse der Musiklehrer mit seinem Unterricht ansetzen, nicht umgekehrt.

Tag 11. Es steht kein Mann zwischen den Deichseln [an dem zweirädrigem Pferdekarren, den die SS-Begleitmannschaft mit ihren Tornistern beladen hat und von Häftlingen ziehen lässt; d. Red.]. Der SS-Mann wendet sich in unsere Richtung und ruft, die Hände als Schalltrichter an den Mund gelegt: „Ein Mann! Ein Deutscher!“ Das fährt wie ein Blitz in mich. Ohne zu überlegen packe ich Hans am Arm: „Los, komm!“, und eile so, wie es irgend geht, das Hinken möglichst kaschierend, auf den Wagen zu. Was mir allerdings von vornherein klar war: Dass ich mich exponiert habe! Und dass ich damit gegen ein striktes Verhaltensgesetz des Lagers verstieß, das da lautet: „Willst du überleben, dann mach dich klein. Fall nie auf.“ Ich aber stelle mich zwischen die Deichseln, greife die Stangen links und rechts. Der Zweiradkarren hat Übergewicht nach hinten, mit allen für mich positiven Konsequenzen. Die Straße, auf der wir dahinschieben, verläuft etwas erhöht. Ist der Weg, den die Marschkolonnen ziehen, nicht zu entfernt, lassen sich mehrere Fünfhundertschaften zugleich überblicken. Was meine frühere Feststellung bestätigt: Wir kommen, im zivilen Flüchtlingsstrom mitschwimmend, rascher voran als die da unten.

Peter Heilbut hat nicht an den diesjährigen Gedenkveranstaltungen in Sachsenhausen teilgenommen. Sein Gesundheitszustand lässt Reisen über mehrere hundert Kilometer nicht zu. Ansonsten wäre er hingefahren, „unbedingt“. 1991, nach 46 Jahren, hatte er es erstmals gewagt. Er war seitdem oft genug in Sachsenhausen, um zu wissen, dass er sich dem Ort stellen kann, inzwischen. Er weiß, was er fühlt beim Abschreiten der eingeebneten Fläche, die einst der Appellplatz war, beim Umkreisen des Erdlochs, aus dem früher der Galgen ragte, beim Anblick der Baracken, in denen er und die Mitgefangenen froren, hungerten, verzweifelten: nichts. „Dies hier, das sollte es gewesen sein? Dieser nichts sagende Plattboden von anödender Banalität?“, schrieb er 1991, nach seinem ersten Besuch der Gedenkstätte. „Es reichte kaum zu erhöhtem Pulsschlag.“

Tag 12. Jäh und brutal werde ich aus meinem lethargischen Zustand gerissen. Geknatter eines Motorrads. Hysterisches, Durchlass forderndes Gehupe: „Weg frei, hier kommt die SS!“ Wenn ich es denn hörte, habe ich es nicht auf uns, auf mich bezogen, wahrscheinlich nicht einmal beachtet im dumpfen Geräuschpegel der uns umbrandenden Flucht. Erst das Gebrüll des SS-Mannes reißt mich hoch: „Hier find ich euch, ihr Scheißkerle! Niederknallen sollt ich euch, ihr Schweine! Habt ihr euch so gedacht, wie? Türmen, wie?“ Und dann zu mir: „Und dir, du Scheißkerl, werd ich’s austreiben …“ Ich habe mich, die Deichseln senkend, ihm zugewandt – und blicke in eine Revolvermündung. Eisiger Schreck jagt mir durchs Gebein. Dann, intuitiv, breite ich meine Arme aus, weise auf den an uns vorbeidrängenden Flüchtlingsstrom und sage mit verzweifelter Stimme: „Wir kommen nicht schneller voran, Herr Unterscharführer, wir kommen nicht vorbei hier!“ Der SS-Mensch, den Revolver immer noch auf mich gerichtet, starrt mich an. Dann, fassungslos über so viel Blödheit dieses missgestalteten Häftlings vor ihm, schreit er: „Du Arschloch! Da hinten sind wir! Da hinten! Ihr seid vorweg, ihr Arschlöcher!“

Im vergangenen Sommer ist er noch einmal hingefahren, diesmal mit seinen Kindern Bettina und Jörn. Es war kurz vor seiner Operation, er wusste nicht, wie sie verlaufen würde. Er wollte ihnen das KZ gezeigt haben. Es war ihm wichtig. Sie liefen über das Gelände, verließen es, fanden den Weg hin zu den Arbeitsstätten. Da fand er plötzlich die Stelle wieder, die Stelle am Kanal, wo die Schuten gelegen hatten und die Häftlinge die Aufgabe hatten, sie zu entleeren. Er hatte wieder alles vor sich: Er mit seiner voll geladenen Schubkarre, auf die die anderen Häftlinge immer mehr schaufelten, bis er sie nicht mehr halten konnte. Bis er mit der Schubkarre umfiel. Und alles herauskippte. Jetzt. Jetzt würde ihn der Schuss treffen. Aber irgendwer zog ihn schnell auf eine der Schuten, irgendwer rettete ihm das Leben. Er stand am Kanal, im Sommer 2004, und durchlebte alles noch einmal wie 59 Jahre zuvor, und da hat er wieder gewusst: „Man gewöhnt sich nicht an den Tod.“

Jetzt gerate ich in Panik. Sollte das zum dritten Mal passieren, dann habe ich die Kugel im Kopf. Für mich gibt’s nur noch eins! Ich drücke den Wagen seitlich nach links zur Straßenmitte hin und taste mit den Augen den linken Rand der Straße ab. Es geht ziemlich abschüssig nach unten. Und unten ist gutes Gebüsch. Weiter drücke ich nach links zum Rand hin. „Na?“, sagt Hans warnend, „du willst doch wohl nicht …?“ „Hans“, ich schreie ihn an, „entweder du machst jetzt mit, oder du gehst jetzt zwischen die Deichseln und hältst deinen Kopf hin!“ Ein letzter verzweifelter Ruck, das linke Rad gerät über die Kante, der Karren kippt, poltert mitsamt dem Tornistergepäck die Böschung hinunter. Ich überwinde den Abhang halb im Fallen, halb im Rollen. Dann weg von der Straße, und weg von allem, allem, allem, was hinter mir liegt.

Peter Heilbuts und Hans Schulz’ Flucht bleibt unbemerkt. Am nächsten Tag erreichen die beiden Häftlinge die amerikanische Frontlinie bei Crivitz. Sie sind frei. Es ist der 3. Mai 1945.

HEIKE HAARHOFF, 35, ist Reporterin der taz