Diese „Ereignisse“ im Osten

Die Toten und die Profiteure: Vor neunzig Jahren begann in der Türkei der Mord an 800.000 Armeniern. In einer glänzenden Studie untersucht Rolf Hosfeld die Entstehung des türkischen Nationalismus als Wurzel dieses Genozids. Zugleich liegt Taner Akcams Standardwerk „Armenien und der Völkermord“ in Neuauflage vor

VON EBERHARD SEIDEL

Am 24. April 1915 ließ die jungtürkische Regierung des Osmanischen Reiches die gesamte armenische Elite in Istanbul verhaften. Mehr als 600 Intellektuelle wurden nach Anatolien deportiert, die meisten in der Folge ermordet. Der 24. April gilt als der Beginn der systematischen und planmäßig durchgeführten Vertreibung und Vernichtung der Armenier, die damals auf dem Gebiet der heutigen Türkei gelebt haben.

Die Ermordung von rund 800.000 der knapp zwei Millionen in der Türkei lebenden Armenier wird von vielen als der erste Völkermord des an Genoziden so reichen 20. Jahrhunderts gesehen. Von vielen, aber nicht von allen. Denn im Gegensatz zum Völkermord an den europäischen Juden, der für die Völkergemeinschaft eine feststehende Tatsache ist, gilt dies für die Massenmorde in den Jahren 1915 bis 1917 nicht. Er ist bis heute nicht in das Weltbewusstsein eingedrungen. Während der Nachfolgestaat des NS-Regimes den Holocaust zugegeben und die Verantwortung für die Folgen übernommen hat, bestreitet die türkische Republik, die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches, bis heute jegliche Schuld.

Die „Ereignisse“ im Osten des Osmanischen Reiches seien unvermeidbare Begleiterscheinungen militärischer Aktionen gegen armenische Separatisten im Verlauf des Ersten Weltkriegs gewesen, lautet die offizielle türkische Sprachregelung.

Auch in Deutschland ist der Völkermord an den Armeniern ein Randthema. Das ist verwunderlich, denn kein westliches Land war so in das Geschehen verwickelt wie das deutsche Kaiserreich, das in den Jahren 1914 bis 1918 der wichtigste Verbündete der jungtürkischen Regierung war. Deutschland war es auch, das den beiden Hauptverantwortlichen des Genozids, Talaat Pascha und Enver Pascha, zur Flucht verhalf – sie konnten sich so der Verantwortung vor dem Istanbuler Kriegsgerichtshof entziehen.

Verwiesen sei an dieser Stelle auf das kürzlich von Wolfgang Gust herausgegebene Buch „Der Völkermord an den Armeniern 1915/1916. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes“ (zu Klampen Verlag). Darin sind Akten dokumentiert, die die Mitwisserschaft und in einigen Fällen auch die Mittäterschaft deutscher Militärberater an den Deportationen der Armenier belegen.

Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat die inzwischen zum Standardwerk avancierte Studie „Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung“ dankenswerterweise neu aufgelegt. Der Autor Taner Akcam analysiert darin die türkische Haltung zum Völkermord anhand türkischer Quellen. Einen besonderen Stellenwert räumt Akcam dabei den Protokollen der Kriegsgerichtsprozesse ein, die in Istanbul zwischen 1919 und 1921 gegen die Verantwortlichen des Genozids stattgefunden haben.

Die Istanbuler Prozesse waren der historisch erste Versuch, Menschenrechtsprinzipien mit Hilfe einer internationalen Strafgerichtsbarkeit durchzusetzen. Dieser fehlgeschlagene Vorläufer der Nürnberger Prozesse wurde vor allem auf Druck der alliierten Siegermächte USA, England und Frankreich durchgeführt. 17 Todesurteile wurden verhängt, von denen drei vollstreckt wurden. Nach Auffassung des Kriegsgerichtshofes gab es keinen Zweifel, dass es sich bei den Vertreibungen 1915 bis 1917 um einen geplanten Massenmord gehandelt hat.

Dieser Auffassung hat sich auch der spätere Gründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, zunächst angeschlossen – eine moralische oder gar rechtspolitische Bedeutung hat er dem allerdings nicht beigemessen. Von Atatürk ist folgende Einschätzung überliefert: „Die Ermordung von Menschen und ähnliche Verbrechen kommen in Amerika, Frankreich und England ebenso vor, doch nur die Türkei wird für das Massaker an 800.000 ihrer Staatsbürger zur Rechenschaft gezogen.“

Ab 1920 verloren die Istanbuler Prozesse selbst bei den Gegnern der Jungtürken den anfänglich durchaus vorhandenen Rückhalt. Denn mit dem Vertrag von Sèvre (August 1920) nahmen die Alliierten dem Osmanische Reich faktisch die nationale Souveränität. Sie stellten das Land unter ihre Militär- und Finanzkontrolle, erzwangen große Gebietsabtretungen in Europa und in Ostanatolien. Und die Griechen versuchten große Teile Westanatoliens zu besetzen.

Für Atatürk, der sich an die Spitze der Widerstandsbewegung stellte, hatte die nationale Souveränität jetzt Vorrang vor einer Aufarbeitung des Verbrechens. Er drohte 1920/1921, sämtliche in seiner Hand befindlichen englischen Gefangenen hinzurichten, falls der unter der Kontrolle der Alliierten stehende Kriegsgerichtshof in Istanbul weitere Todesurteile vollstrecken sollte. Während der folgenden Befreiungskriege kämpfte eine Reihe von Verantwortlichen des Völkermordes an seiner Seite, später übernahmen sie hochrangige politische Ämter in der neu gegründeten Republik.

Taner Akcams Buch ist ein Aufruf an die armenische, vor allem an die türkische Seite, endlich die Dokumente zur Kenntnis zu nehmen. Sein eigener Ansatz, der in der Türkei seit Jahren zumindest in zivilgesellschaftlichen Kreisen zustimmend debattiert wird und mit zu einer veränderten Sicht beiträgt, ist ein hoffnungsvoller Beginn. Er unterwirft den Türkismus und die Pläne zur (muslimischen) Homogenisierung des christlich-muslimischen Anatoliens ebenso einer kritischen Bewertung wie die Autonomiebestrebungen eines kleinen Teils der Armenier während des Zerfallsprozesses des Osmanischen Reiches.

Wo Akcam sich um eine betont sachliche Darstellung bemüht, stellt der Journalist und Politikwissenschaftler Rolf Hosfeld das Leid der Opfer in den Vordergrund. „Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern“ ist eine glänzend geschriebene Abhandlung. Eingehend untersucht Hosfeld die Entstehung des türkischen Nationalismus als Wurzel des Völkermords an den Armeniern. Auf vielen Seiten, gestützt auf Niederschriften von Zeitzeugen, schildert er minutiös, auf welche Weise die Menschen getötet wurden. Er benennt die Täter – Regierung, Verwaltungsbeamte, Militär, paramilitärische Gruppen, kurdische und tscherkessische Banden, aber auch ganz normale Bürger – und die Profiteure.

Der Völkermord war, so Hosfeld, eine gigantische Enteignung und Umverteilung von Reichtum – weg von den christlichen Minderheiten der Griechen und Armenier, die zu diesem Zeitpunkt mehr als 25 Prozent der Bevölkerung stellte, hin zur muslimischen Majorität auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Vor dem Völkermord befanden sich 66 Prozent des Binnenhandels, 79 Prozent der Industrie- und Handwerksunternehmen und 66 Prozent der akademischen Berufe in den Händen der christlichen Minderheiten. Danach spielten sie keine Rolle mehr. Diese Umverteilung setzte die Mittel für eine „ursprüngliche Akkumulation“ einer entstehenden türkischen Bourgeoisie frei.

Gewichtige Teile der Funktionseliten und des Bürgertums der jungen türkischen Republik sind mit dem Genozid verknüpft. Das erklärt die Staatsdoktrin in dieser Frage seit 1923, entschuldigt allerdings nichts. Immerhin, so Hosfeld, steht der Paragraf 305 des Strafgesetzbuches, nach dem die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern als staatsfeindliche Propaganda geahndet werden kann, inzwischen zur Diskussion. Auch fordern Wissenschaftler und Journalisten wie der Chefredakteur des Massenblattes Hürriyet ein Ende der Leugnungspolitik.

Wie die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema in der Türkei aussehen wird, bleibt abzuwarten. Zumindest für die aktuelle Debatte in Deutschland ist Rolf Hosfelds Abhandlung ein wichtiger Beitrag. Denn er macht auch deutlich, dass Deutschland bei der noch ausstehenden Versöhnung zwischen Türken und Armeniern nicht abseits stehen kann. Es muss sich noch eingehender Rechenschaft über seine Mitverantwortung am Genozid ablegen.

Taner Akcam: „Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung“. Hamburger Edition, Hamburg 2004, 430 Seiten, 16 EuroRolf Hosfeld: „Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 351 Seiten, 19,90 Euro