Fahrstuhl zu Neruda

Sie knarzen, sie ruckeln, sie machen Ortsfremden Angst. Fünfzehn historische Aufzüge verbinden die Hafenstadt Valparaiso mit seinen Vororten im Gebirge. Chiles bewegliches Weltkulturerbe – ein Belastungstest

Von BENEDIKT BRUNNER

Wir fahren heute zu Neruda, sagt mein Freund und grinst breit. Neruda ist tot, muss man dazu sagen. Pablo Neruda war ein chilenischer Dichter und Nationalheld, und wie alle guten Dichter und Nationalhelden ist er tot. Vorher hat er noch ein Weilchen hier gelebt. Hier ist Valpo, vollständiger Name Valparaiso. Valpo war als Hafen für ganz Amerika wichtig, bevor sie oben in Panama ein Loch in den Kontinent gebohrt haben. Danach war es Haupthafen Chiles. Jetzt bleibt ihm nicht mal das. Und in diesen toten Haupthafen mit seinem toten Helden werden wir heute eintauchen. Mit dem Fahrstuhl.

Denn die Fahrstühle in Valpo sind anders. Sie heißen ascensores und stecken nicht in, sondern zwischen den Häusern. Valpo öffnet sich wie ein gigantischer Hohlspiegel zum Pazifik, und dieser Hohlspiegel hat 45 kleine Macken, 45 Hügel, die im Chilenischen cerros heißen. Manche hängen zusammen, manche stehen einzeln. Darauf, darin und dazwischen leben 300.000 Menschen.

Im klapprigen Bus der Linie Null wird der Mitteleuropäer zum Wodka Martini: geschüttelt, ungerührt. Nichts liegt in dieser Achterbahn näher, als eines Tages auf die Idee zu kommen: Wir bauen einen Fahrstuhl. Mehrere. Eine ganze Menge. Der älteste Ascensor, der noch fährt, datiert von 1883. Unsere Urgroßväter waren damals Kleinkinder, und Neruda schwamm noch als Fisch im Ozean herum. Mittlerweile sind die Lifte Nationaldenkmäler. Wir beschließen, sie alle fünfzehn an einem Tag zu fahren.

Denn auch Liftfahren ist in Valpo anders. Der durchschnittliche Ascensor sieht aus wie ein Bauwagen und erinnert an eine Zahnradbahn aus einem Paul-Hörbiger-Heimatfilm. Ein Stahlseil zieht eine bunt bepinselte Holzgondel eine Metallschiene hinauf. Schräg und steil, manchmal auch sehr steil. 63,5 Grad Steigung hat der König unter ihnen, der Ascensor Lechero. 58 Höhenmeter frisst er auf knapp 100 Metern Weg. Die Schienen liegen recht hoch, die Gondel klappert und das Seil knarzt wie ein VW Käfer in der Schrottpresse.

„Vertrauen Sie“, sollte unten an der Tür stehen. Tut es aber nicht, mein Freund übernimmt das: Chilenische Ingenieure seien viel zuverlässiger als argentinische. Er will mich beruhigen. Und so knarzt und klappert alles, als der Ascensor Larraín in den Himmel auffährt. Genauer gesagt, ins östliche Blumenviertel auf dem gleichnamigen Cerro. Jeder Fahrstuhl heißt hier wie sein Hügel, sehr zweckmäßig.

Während unten der rußige Dieseldampf die Luft verdickt, wachsen hier oben Nelken aus den Wänden, aus Töpfen und Schalen. Dazwischen pinkelnde Hunde, omnipräsente Straßenköter, die in dieser Stadt die Parallelgesellschaft bilden. Aus dem Blau über uns brennt die Sonne herab, früh um zehn. Nicht der erste heiße Spätsommermorgen in diesem März. Der Blick fällt den Talkessel entlang, in dem der Hohlspiegel ins Wasser sinkt. Da unten haben sie dem Ozean Land abgerungen, den Hafen, das Hafenviertel, den Kongress hingetrutzt. Keine Zeit zu glotzen, wir müssen weiter. Vierzehn Ascensores warten noch. „Vertrauen Sie öfter!“

Lechero kreischt. Über die Kante des Gondelfensters hinab stürzt der Blick ins Tal. Vielleicht schwingt auch ein kleines bisschen Lust mit. Lechero ist in der Tat so steil, dass man sich ganz nach vorne lehnen muss, um unten die Schienen in den Häusern verschwinden zu sehen. Man lernt, dass einem dabei nichts Schlimmes passiert. Den blassen Deutschen umringen Mütter, Kinder und Ehemänner. Sie haben vor langer Zeit das letzte Mal Ascensores-Angst gehabt. Oder nie. Lechero kommt ruckend zur Ruhe, ein Bärtiger öffnet die Blechtür. Im Spalt zwischen Gondel und Bergstation grinst zentimeterbreit der Abgrund. Lechero schweigt.

Inzwischen wurde beschlossen, das Verfahren abzukürzen. So geht es die Fahrstühle nicht nur rauf, sondern auch gleich wieder runter. Es ist nicht schwierig, damit als Sonderling aufzufallen. Doch die Chilenen mögen Sonderlinge, vor allem die, die auf dem Weg zu Neruda sind. Einmal Turry hoch und runter, den Artillería und den Cordillera abhaken. Die Blech gewordene Königin Reina Victoria bittet zur Audienz. Die Nonnen, Las Monjas, lassen tief blicken. Der Ascensor Barón verlässt täglich hundertfach Valpo: als Postkartenmotiv Nummer eins, blauweißrot gestreift mit hübschen Amerikasternchen. El Peral und San Agustín klettern durch den Westen der Stadt. Sie knarzen übrigens alle.

Mariposa heißt einer, das bedeutet Schmetterling. Villaseca, die trockene Stadt. Espíritu Santo zeugt vom Katholizismus der Chilenen. Der Turm von Pancho, einer Kirche, die eigentlich San Francisco heißt, war lange Zeit das Erste, was die Seefahrer vom Meer aus gesehen haben. Heute sehen sie den Kongress, den Pinochet aus Santiago in die Provinz verbannt hat, und ein Bürohaus mit dem teuersten Restaurant der Stadt auf der Spitze. Das Brot in Pancho mag vielen besser schmecken. Auch ein Weg in den Himmel.

Polanco ist ein Sonderling. Ein bisschen wie wir, stellen wir fest. Das macht ihn immerhin prominent, in den Andenkenläden hängt sein Bild gleich beim Eingang. Wer von unten kommt, läuft 150 Meter in den Berg hinein. Feuchte Kühle streichelt die Wangen, auf den Kachelboden säbelt Neonlicht nieder. Am ehesten die Wände erinnern an Felsen. Dann öffnet ein Glattrasierter die Fahrstuhltür und bittet in den Schacht. Polanco fährt senkrecht nach oben, das macht ihn speziell.

Auf halber Strecke kommt er ans Tageslicht und stoppt kurz zwischen, gut 30 Meter höher ist Endstation. Über Eisengitter in luftiger Höhe fliehen die Schritte hin Richtung Berg, dem rettenden Asphalt entgegen. Verharren, fliehen weiter. Blicke nach unten schaffen Faszination und Höhenangst. Chilenische Ingenieure, Sie wissen schon. Aber mein Freund hat wohl Recht. Manchmal schafft Berührung Vertrauen. Wir verlassen Polanco, den Sonderling. Neruda wartet.

Neruda war ein Freund des chilenischen Staatspräsidenten Allende, gegen den Pinochet 1973 putschte. Allende starb, niemand weiß, ob er selbst schoss oder ein anderer. Das ist Teil der chilenischen Legende. Bis hier jemand Licht macht, vergehen noch Jahre, die Chilenen leben derweil im Jetzt: Die Demokratie verjüngt sich, Pinochet vergreist. Die Wunden des Terrorregimes vernarben. Unten im Kessel und oben in den Cerros atmet alles auf. Ein Mittelstand, Friedensmasse jeder Gesellschaft, wächst heran. Neruda liegt still und lächelt wahrscheinlich.

Auf dem Cerro Bellavista steht sein Haus. Schöner Blick heißt dieser Hügel, eine Untertreibung. Mit dem letzten Lift, Florida, fahren wir hinauf. Dieser eine hätte gereicht, aber es ging ja ums Vertrauenlernen. Das Knarzen klingt mittlerweile familiär. Man ertappt sich dabei, nicht mehr aus dem Fenster zu schauen. Die Füße brennen, der Magen meldet Mangel an Nachschub. Ein kleines Mädchen starrt gebannt auf die Dächer, die Fingerchen verwachsen mit dem Fenstergitter. Knarzen, ein Ruck, die Tür geht auf, Routine.

Natürlich lebte Neruda in einem Haus, das heute ein Museum über Neruda ist. Sehr bunt, mit einem Andenkenladen. Neben der Tür hängt ein Bild vom Ascensor Polanco, auch wenn der ein Stück weit weg steht. Vielleicht hat Neruda ihn ja irgendwann benutzt. Wir erfahren, dass Neruda gerade schließt.

Es ist 17 Uhr, das ist fünf Stunden, bevor die Chilenen abends zum Feiern rausgehen. Und es ist Museumsschluss, in Valpo wie in Berlin-Mitte. Fahren wir eben morgen zu Neruda, sagt mein Freund. Wir nehmen den Fahrstuhl.

BENEDIKT BRUNNER, 27, lebt als freier Autor und Politologie-Student in Eichstätt