Polens Ausstieg aus dem Atom-Ausstieg

Mit einer neuen Direktive will Polen in spätestens 20 Jahren ein eigenes AKW ans Netz bringen. Dabei war es der Anti-AKW-Bewegung nach Tschernobyl gelungen, den AKW-Bau scheinbar dauerhaft von der politischen Agenda zu streichen

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Polens Atomlobby sitzt in den Startlöchern. Denn Warschau plant den Einstieg in die Atomenergie: Zuerst beschloss die Regierung das Programm „Die Energiepolitik Polens bis 2025“ – in dem ein Reaktorneubau festgeschrieben ist, der bis 2025 ans Netz gehen soll. Jetzt begann die Standortsuche an den Seen der Masuren. Selbst eine Endlagerstätten ist ausgemacht – an der Grenze zu Kaliningrad.

„Das Atom kehrt zurück, und das im großen Stil“ jubelte Polens liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Statt in diesen Tagen an das Reaktorunglück 1986 im ukrainischen Tschernobyl zu erinnern, wirbt Polens führendes Meinungsblatt für die „umweltfreundliche und saubere Energie“. Der neue Reaktor würde ja kein sowjetischer mehr sein, sondern einer westlichen Typs – „sicher, sauber und umweltfreundlich“, wie Staatssekretär Jacek Piechota vom Wirtschaftsministerium erklärt. „Nur mit einem großen Atomkraftwerk kann Polen maximale Versorgungssicherheit erreichen.“

Tatsächlich nämlich ist Polen zu 95 Prozent von Öllieferungen aus Russland abhängig. Auch drei Viertel der polnischen Gasimporte kommen aus Russland. Zugleich aber erreicht Polen bei der Stromerzeugung aus Steinkohle mit 96 Prozent einen Spitzenwert weltweit. 2001 wurde in Polen mehr Steinkohle gefördert als in allen anderen Ländern der erweiterten EU. Allerdings birgt das enorme Probleme, die Umweltauflagen der EU einzuhalten. Staatssekretär Piechota: „Mit dem EU-Beitritt haben wir die Emissionsobergrenzen von Treibhausgasen akzeptiert. Auch die Kioto-Richtlinien gelten für uns. Zwischen 2018 und 2020 muss daher in Polen eine neue saubere Energiequelle dafür sorgen, dass die Schadstoffemissionen nicht weiter steigen.“

Allerdings: Die meisten Polen sind bis heute Atomkraftgegner. Zu tief sitzt der Schock von 1986, als die kommunistische Regierung Polens erst drei Tagen nach der Reaktorkatastrophe die Informationssperre aufhob, als es zu wenig Jod gab, sich viele wie im Gefängnis fühlen – Reisepässe wurden damals nur auf Antrag ausgegeben. Die Anti-Atom-Bewegung wuchs nach Tschernobyl schließlich so stark, dass der Bau des ersten AKW in Zarnowiec bei Danzig gestoppt wurde. Die massenhaften Proteste gegen den Reaktor „Typ Tschernobyl“ führten schließlich zu einem Referendum im Verwaltungsbezirk Danzig. Das Ergebnis: 86,2 Prozent stimmten 1990 gegen den Bau, darunter Lech Walesa, Gründer der Gewerkschaftsbewegung Solidarność.

Diesmal haben im politischen Raum allerdings nur die Grünen Polens vehement gegen den geplanten Atom-Einstieg protestiert, auf die hohen Kosten der Atomenergie verwiesen und den Ausbau erneuerbarer Energiequellen gefordert. Zwar will die Regierung ihr Programm „Energiepolitik bis 2025“ breit in der Bevölkerung diskutieren lassen. Für die meisten Polen liegen solche Fragen derzeit aber weit in der Zukunft. Denn wenn auch beispielsweise etwa die Säuglingssterblichkeit durch Tschernobyl in Südostpolen dreimal höher als im Durchschnitt ist – die Reaktorkatastrophe hat viel von ihrem Schrecken verloren. Voller Ungeduld titelt etwa die Gazeta Wyborcza: „Atom-Polen – wann bauen wir unser Atomkraftwerk?“