Lass mich dich küssen

Immer noch ein braves Mädchen mit einem schwierigen Vater und dem Willen, es noch einmal wissen zu wollen: Nancy Sinatra gab ihr erstes Deutschlandkonzert in Berlin

Wie aufreizend ein seltsamer Song sein kann, gesungen von blonder Unschuld!

Nachdenklich wurde man am Sonntagabend: dem Abend, an dem Father’s daughter Nancy das erste Mal vor Berliner Publikum sang. Sie sang den Megahit mit den Stiefeln, dessentwegen die meisten im SFB-Sendesaal saßen, andere alte Songs, neue Songs – 60s-Interpretin Nancy Sinatra ist post Startum zur Ikone berufen worden und bekam neulich von allen möglichen Jetzt-Stars Stücke auf den Buckel geschneidert.

So wurde man auf eine schwere Probe gestellt: Was hat man eigentlich von Nancy Sinatra erwartet? Dass sie charismatisch ist? Sexy? Gut bei Stimme? Leidenschaftliche Zeitzeugin einer verrückten Zeit?

Nancy ist 64 Jahre alt, sie ist durchaus sexy – auf eine sympathisch schabrackige, mit mehreren verschiedenfarbigen Schichten Braun angepinselte, Elvis und Lee und Frankie Boy und wie sie alle heißen fest ins Auge gestarrt habende, stolz-faltige Art, die noch reizender wird, weil sie am Ende des Konzerts tatsächlich ins Publikum tapert, verlangt, das Saallicht anzumachen, sich per Händedruck BesucherInnen vorstellt, um dann mit ihnen zusammen „Sugartown“ zu singen – das hat Charme.

Eine Zicke ist sie also schon mal nicht. Aber was ist sie? Keine richtige Croonerin, dafür ist das Stimmchen immer schon zu dünn gewesen – früher kamen ihr verstärkt die anderen äußerlichen Items, die Looks zugute, genau wie ihrem Vater. Und die Technik: Weder Frankie Boy noch Nancy hätten ohne Mikrofone je eine Chance gehabt, denn ihre Stimmen waren schön – Frank Sinatras unwiderstehliches Organ swingte sogar wie ein ganzes Jazzorchester an einem Sommerabend –, aber leise. Bei Nancy – das merkt man vor allem bei „Something stupid“, das sie zusammen mit dem vom Band kommenden Geist ihre Vaters singt – ist die Stimme auch schön, aber begrenzt, viel mehr zweite Stimme als Lead.

Doch das macht nichts! Die Stücke waren es immer schon bei ihr: die Storys, die andere in sie hineininterpretieren. Allen voran der dirty old man des US-Entertainments Lee Hazlewood, der genau wusste, wie aufreizend ein seltsamer Song sein kann, wenn er von einer blonden Unschuld gesungen wird, und an dem sich Nick Cave bei seinem „Wild Rose“-Duett mit Kylie Minogue orientiert haben muss. Nancy spielt in Berlin ebenfalls ein paar Lee-Stücke, es sind die besten des Sets. Nancy, in schlichtem Lange-Hosen-Schwarz, mit Kreuz um den Hals und Big Hair als Gesichtsumrahmung und -ablenkung, fühlt sich definitiv in den ollen Kamellen zu Hause. Manche sind richtig gelungen: der Eingangssong „Bang Bang“, der sie mit allen Generationen versöhnt, „Stay away from lightning“, „Sugartown“, sogar das von Bono und The Edge geschriebene neue „Two shots of happy, one shot of sad“. Wenn da nur nicht immer diese Gratwanderung ins Gruselige wäre! Dieser glatzköpfige Gitarrist zum Beispiel, der manchmal denkt, er sei bei Thin Lizzy, und ellenlange, geschmacklose Soli gniedelt, oder der Ex-Pulp-Jammerlappen Richard Hawley, der einen erst mit seiner Vorband weich gekocht hat und beim Hauptact schon wieder auf die Bühne darf, um mit Nancy und den anderen eine „Travelling Wilburys“-Session zu machen, mit Nancy als Roy Orbison – muss man angesichts der Brüchigkeit ihrer Stimmer leider sagen, und sympathisch war Roy Orbison auch. Okay, Roy Orbison ist bestimmt nicht ins Publikum gestolpert und hat keine merkwürdigen rosa Plastikbeutelchen in die jubelnde Menge schmeißen lassen, die original riechen wie eine neue Barbiepuppe und auf denen ein Kussmund und „Let me kiss you – Nancy Sinatra“ gedruckt ist; die Marketingidee eines Gummistiefelherstellers, der seine Stanzreste nicht wegwerfen wollte?

Dass sie wirklich stolpert, auch auf der Bühne – sie groovt nicht, nein, sie geht in die Knie –, das rührt einen und lässt einen daran denken, dass sie auch bei „These boots …“ damals, in dem Video mit den todschicken Stiefeln und dem Barhocker, nicht groovte – sie tanzte so künstlich, wie Sixties-Pin-ups tanzen mussten. Kein Tina-Turner-Soul, die ja durchaus zeitgleich zu irgendeinem Takt mitwippte, sondern clean chique, weißer Brave-Mädchen-Beat.

Sie ist immer noch ein weißes braves Mädchen mit einem schwierigen Vater, mit einer Familie, die sie liebt, mit einem Kreuz um den Hals und der trotzigen Haltung, es noch mal wissen zu wollen. Kann sein, dass das reicht. Muss man mal drüber nachdenken. JENNI ZYLKA