„Der Katholizismus passt gut zur indifferenten Gesellschaft“, sagt Armin Nassehi

Auch wenn sich die Gesellschaft zuletzt vom Papst faszinieren ließ: Auf den Alltag wird das wenig Einfluss haben

taz: Herr Nassehi, nun mit ein wenig Abstand betrachtet: Ist unsere Gesellschaft katholischer geworden?

Armin Nassehi: Zumindest gab es eine Faszination. Mir ist beim Papst-Hype aber vor allem der Unterschied zwischen den Inhalten der katholischen Redeweisen aufgefallen, die sehr konservativ, bisweilen geradezu lebensfern sind, und der attraktiven Form, in der sie dargeboten werden. Man braucht die konservativen Positionen gar nicht zu teilen, um die Form zu bewundern, die Benedikt XVI. findet, um seine Glaubenswahrheiten dem Publikum gefühlsstark klarmachen zu können. Ich glaube sogar, dass viele Papst-Fans der vergangenen Wochen mit diesen Inhalten gar nicht viel anfangen können.

Die Menge auf dem Petersplatz und all die Fernsehzuschauer nahmen den Katholizismus nicht ernst?

Doch. Nur: Niemand wird nun ein sexuell enthaltsames Leben vor der Ehe führen oder auf Verhütungsmittel verzichten, niemand wird die Sätze des Papstes eins zu eins in Realität übersetzen. Aber der Attraktivität der Form tut das keinen Abbruch.

Was ist daran attraktiv?

Sie ist eine authentische Inszenierung, was eigentlich ein Widerspruch in sich selbst ist. Jeder McKinsey-Berater würde einem Politiker oder Manager Ratschläge geben wie: Es kommt am besten rüber, wenn du deine Punkte jetzt mal authentisch vorträgst. Das klappt dann aber oft nicht gut. Bei Ratzinger schon, einfach weil er wirklich ernst meint, was er sagt. Diese Authentizität finden Sie weder in der Politik noch im Kulturbereich. In diesen Bereichen ist die ganze Ironie der eigenen Dekonstruktion immer schon in alle Äußerungsformen eingebaut.

Authentizität? Das ist alles?

Es ist nicht wenig. Bedenken Sie, dass ausgerechnet der Katholizismus die Menschen damit genau an dem bürgerlichen Nerv packt, die Einheit ihrer selbst zu bilden. Und er tut das auch noch ohne große Reflexionskosten. Wir haben die Forderung verinnerlicht, in uns so etwas wie eine einheitliche Persönlichkeit zu entwickeln. Das ist eigentlich ein protestantisches Modell, aber inzwischen scheint einzig der Katholizismus in der Lage zu sein, diese Einheit überhaupt noch ansprechen zu können.

Warum kann es der Protestantismus nicht mehr?

Weil die Kommunikation bei ihm stets über Argumente und die Verallgemeinerung guter Gründe läuft. Der protestantische Prediger ist die Zentralfigur in der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Er hat sein Publikum über den Intellekt angesprochen: Du musst ein Leben führen, das aus einem Guss ist! Wenn Sie so wollen, ist die größte Symbolfigur eines solchen Protestantismus in diesem Sinne heute Jürgen Habermas. Nur leben wir nicht mehr in dieser Form der bürgerlichen Gesellschaft, die sich mit guten Gründen stillstellen lässt. Die protestantischen Kontinuitätsunterstellungen funktionieren nicht mehr, unsere Gesellschaft ist aufgelöst in verschiedene Gegenwarten, die sich scheinbar vollkommen indifferent zueinander verhalten.

Verstehe ich richtig: Der Katholizismus erzeugt einen Schein von Einheit in einer zerfallenden Welt?

Nein. Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft zerfällt, und es ist mehr als Schein. Ich glaube übrigens auch nicht, dass es Orientierungslosigkeit gibt. Vielmehr leben wir in einer Gesellschaft, die unglaublich stabil darin ist, sich Unterschiede und Indifferenz leisten zu können. Dabei löst sie bestimmte Konnexe, bestimmte Verbindungen auf.

Welche?

Zum Beispiel die zwischen Religion und Alltag, zwischen moralischem Rigorismus und Lebenspraxis. Attraktiv am Katholizismus ist seine Plausibilität religiöser Rituale und seines religiösen Tons, aber das verändert andere, säkulare Gegenwarten viel weniger, als man denkt. Religiöse Wahrheit hat mit alltäglicher Praxis nichts zu tun. Ratzingers Art der religiösen Kommunikation hat ihre Stärke geradezu darin, dass sie von sich selbst nicht mehr glaubt, dass sie die Welt steuert, aber in der konkreten Gegenwart ihrer Erscheinung funktioniert. Während der Protestantismus eher immer noch den Konnex mit der Gesellschaft will und sich stärker in dem Leiden einrichtet, dass andere die guten Gründe nicht hören wollen.

Heißt das aber nicht, dass der Katholizismus im Moment die modernere Religion ist?

Viele Inhalte wollen so gar nicht zur zentralen Selbstbeschreibung der Moderne passen. Aber insofern der Katholizismus besser zu einer nachbürgerlichen Gesellschaft der Gegenwarten passt, ist er tatsächlich auch moderner als der Protestantismus. Max Weber hatte betont, der vormoderne Katholizismus lebe moralisch „von der Hand in den Mund“, bleibe also auf die rituelle Gegenwart beschränkt. Genau darin ist er heute modern, dass er mit einer Welt rechnet, die ganz anders ist als er selbst. Damit rechnet zum Beispiel der Protestantismus nicht so richtig, er nimmt an, dass im Prinzip die ganze Welt seinen Argumenten zugänglich sein müsste.

Müssen ungläubige Menschen anlässlich des Papst-Hypes besorgt sein?

Nur wenn die Indifferenz zwischen Religion und Politik aufgehoben wird. In Europa sehe ich da im Augenblick keine großen Probleme. Im Übrigen: Ein Ungläubiger, der Angst hat, glaubt auch ein bisschen an den lieben Gott. Also: Fürchtet euch nicht!

INTERVIEW: DIRK KNIPPHALS