Evergreen im Mai

Maibowle ist der Glühwein des Frühlings und wird eiskalt gereicht. Eine saisonale Dröhnung aus dem Wald

Während die einen in der Nacht zum 1. Mai traditionell Gebrauch vom Molotowcocktail machen, trocknen die anderen fleißig gesammelten Waldmeister, um am Sonntag die erste Maibowle des Jahres zu genießen: Man fülle eine Flasche kalten trockenen Rieslings in ein Bowlengefäß, hänge einen Bund leicht verwelkten Waldmeisters (maximal zehn Pflanzen!) so hinein, dass nur die Blätter vom Wein bedeckt sind. Nach 30 Minuten Bündel wieder herausnehmen, damit die Bowle nicht bitter wird, und anschließend mit Sekt auffüllen. Nach Geschmack zuckern, Zitronenscheiben hinzufügen – und fertig ist das Schädelbräu.

Maibowle ist als Kopfschmerzgetränk verschrien, schuld daran ist die im Waldmeister (Galium odoratum – zu Deutsch: Duftendes Labkraut) enthaltene chemische Verbindung Kumarin, die während des Verwelkungsprozesses freigesetzt wird. In hoher Dosis verursacht dieser Stoff Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit – und ist dafür berauschend bis halluzinogen. In angenehmer Dosierung (drei Gramm bzw. zehn Pflanzen auf zwei Liter Flüssigkeit) wirkt Kumarin anregend bis euphorisierend. Auch von aphrodisierender Wirkung wird berichtet.

Die Maibowle wurde erstmals im Jahr 845 aktenkundlich, als ein Benediktinermönch entdeckte, dass sich mit Waldmeister nicht nur Motten vertreiben lassen, sondern auch trübselige Gedanken aus Wintertagen. Seitdem erfreut sie sich ungebrochener Popularität – obwohl Bowle als leicht tantiges Getränk gilt, das zuletzt in der Nierentischszene der 1950er angesagt war.

Vielleicht liegt es am verknappten Angebot: Spätestens Ende Mai blüht der Waldmeister und ist dann nicht mehr zur Bowlenherstellung geeignet.MARTIN REICHERT