Demografie und Wirklichkeit

Lounge- und Glasglockenatmosphäre, fernab von der Realität: Der Babyboom in Prenzlauer Berg ist gar keiner, trotz langer Wartezeiten an Schaukeln und Rutschen. Der Attraktivität des immer teurer werdenden Berliner Bezirks schadet das aber nicht

Das viele junge Familienglück irritiert hier schon so manchen Single

VON GERRIT BARTELS

Der Blick in die Ferne, aus dem Fenster der Wohnung, trügt nicht, er vermittelt Urbanität und Heimeligkeit zugleich: Zur Linken die Immanuelkirche, dann, direkt die Prenzlauer Allee herunter, Park-Hotel und Fernsehturm, zur Rechten der Wasserturm, das Wahrzeichen des Kollwitzplatzes im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Trügerischer wird es, wenn man sich anschaut, wer die Prenzlauer Allee zwischen Immanuelkirchstraße und Knaackstraße kreuzt: immer wieder junge Mütter und junge Väter, die ihre kleinen Kinder an der Hand halten, das Laufrad aus Holz unter dem Arm tragen oder den Kinderwagen schieben. Das Trügerische daran ist, das hat das „Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung“ schon Ende letzten Jahres (taz vom 21. 1.) mit Hilfe staatlicher Statistiken ermittelt und analysiert, dass der sagenumwobene Baby-Boom in Prenzlauer Berg nur ein scheinbarer ist.

Ja, die Statistik zeigt, dass der Bezirk zu den kinderärmsten Gebieten Berlins und auch der Republik gehört. So kamen hier 2003 je tausend Frauen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren gerade mal 35 Kinder zur Welt, in einem Bezirk wie Reinickendorf dagegen 39 und in Neukölln gar 47. Zum Vergleich nennt das Amt auch das niedersächsische Städtchen Cloppenburg, das das kinderreichste der Republik ist mit 48 Kindern je tausend Frauen. Die FAZ hat kürzlich, im Sinne ihres auf das Thema spezialisierten Herausgebers Frank Schirrmacher, die Zahlen genutzt, leicht hämisch den „demografischen Mythos Prenzlauer Berg“ zu erledigen, und sieht sich in ihrem Alarmismus bezüglich der Geronto-Gesellschaft bestärkt.

Aber mal abgesehen davon, dass ein Bezirk wie Prenzlauer Berg allein wohl nichts gegen den Methusalemkomplex ausrichten kann und selbst euphorischste Medienberichte über das „Kinderparadies Prenzlauer Berg“ dies auch nicht suggerierten, ist es alles andere als ein Wunder, dass es in Prenzlauer Berg eben kein Demografiewunder gibt. So endet der Teil des Bezirks, der fälschlicherweise gern als Szenebezirk bezeichnet wird und für den vermeintlichen Kindersegen verantwortlich ist, sowieso dort, wo die S-Bahn einen Ring zieht – dahinter gibt es Straßenzüge und Viertel, die sich hinsichtlich Architektur und Bevölkerungszusammensetzung von (im übrigen in der Kinderstatistik noch schlechter abschneidenden) Bezirken wie Lichtenberg und Marzahn nur wenig unterscheiden. Und natürlich hat es seinen guten Grund, dass in dem Szeneteil mit der „Loungeatmosphäre“ (FAZ) für Eltern und Kinder, im Bötzowkiez oder im LSD-Dreieck, dass dort junge Frauen, wie es das Berlin Institut ebenfalls analysiert, im Schnitt nur ein Kind bekommen. Denn schon bei zwei Kindern wird es in dem dicht besiedelten und nicht gerade mit großzügigen Grünflächen ausgestatteten Bezirk auch in den Wohnungen eng. Viel erschwerender kommt hinzu, dass bezahlbare Vier- bis Fünfzimmerwohnungen in Prenzlauer Berg eine Seltenheit geworden sind. Weist der Mietspiegel einen Quadratmeterpreis von 6,51 Euro nettokalt als Mietobergrenze aus, haben viele Vermieter keine Probleme damit, ihre Wohnungen für 7 bis 9 Euro pro Quadratmeter loszuschlagen – kein Problem für kinderlose Großverdiener, aber schon für einen Assistenzarzt mit nicht berufstätiger Frau und zwei Kindern hart an der Grenze.

Kein Wunder also, dass sechs- bis sechzehnjährige Kinder eine Minderheit in Prenzlauer Berg darstellen: Wer kann, verschwindet, wenn die Kinder älter werden, dorthin, wo es billiger und grüner wird, ins Berliner Umland, und wo es eben auch finanziell erschwinglich ist, vielleicht ein zweites oder drittes Kind zu bekommen. Dazu kommt, dass sich in Prenzlauer Berg die Schulfrage nicht anders als in Bezirken wie Kreuzberg und Schöneberg stellt. Ist es dort der hohe Ausländerkinderanteil, der misstrauisch beäugt wird, so gibt es hier das Vorurteil, in den Schulen würde nach überkommenen Lehrplänen unterrichtet, hier würden noch Lehrkräfte aus der DDR beschäftigt. Einen Vorgeschmack bieten da oft die staatlichen Kindertagesstätten, die allein schon aus Geldmangel immer noch so aussehen wie in den frühen Achtzigerjahren. Man fragt sich, was eigentlich für Menschen aus Lippe, Ulm oder Wolfenbüttel die trotzdem nicht nachlassende Attraktivität dieses Bezirks ausmacht, eines Bezirks, in dem auf Spielplätzen für Kinder lange Wartezeiten an Schaukeln und Rutschen in Kauf zu nehmen sind. Ob es diese an eine Glasglocke erinnernde Atmosphäre ist, eine Atmosphäre, die mit den bundesrepublikanischen Realitäten nur wenig zu tun hat?

Zumindest in den einschlägigen Straßenzügen prägen junge Menschen und Eltern tatsächlich das Straßenbild, da kann sich ein unglücklicher Single schon mal von dem vielen jungen Familienglück abgestoßen fühlen. Es sind hier vor allem Studenten, Akademiker, Medienmenschen und Touristen, die sich die Klinken der Geschäfte in die Hand geben und Straßen und Spielplätze bevölkern, und mögen Thailänder die Gemüseläden in der Hand haben und die indischen Restaurants in der Rykestraße eine Dichte wie in der Schöneberger Goltzstraße haben, so ist Multikulti in Prenzlauer Berg doch ein Fremdwort und ein Türke ein Mensch von einem anderen Stern. Die Fremdsprachen, die am Kollwitzplatz gesprochen werden, sind Spanisch, Französisch, Englisch und Russisch, doch stammen sie gleichfalls von Menschen zwischen 25 und 45, die beruflich gesettelt sind und kleine Kinder haben.

So ist man unter seinesgleichen, so übt man sich hier, wenn es mal nicht so läuft, in der Kunst des stilvollen Verarmens, und so wundert man sich bisweilen, wenn die Realität Einzug hält und im Sommer am Helmholtzplatz die Alkis ihre Plätze einnehmen oder morgens um acht beim Kaiser’s-Markt in der Winsstraße auch Menschen mit offensichtlicher Psychiatrieerfahrung einkaufen. Es muss diese Abgeschlossenheit sein, die viele Leute hält, zumindest bis die Kinder die Schulreife erlangt haben, oder erst anzieht, die Illusion, dass immer alles gut wird, und da macht es auch nichts, dass der demografische Mythos zerstört ist. Wer sich, wenn er es schon nicht mehr in die ab Mitternacht sowieso meist leeren Bars schafft, zumindest beim Blick aus dem Fenster noch seiner Urbanität versichern kann, den zieht es so schnell nicht nach Cloppenburg.