Reise ans Ende der kleinen Finger

Monotonie und Schönheit, Doom Jazz und „Geisterfaust“: Die Mülheimer Band Bohren & der Club of Gore ist eines der vielleicht langsamsten Musik-Kollektive der Welt – seine Musik klingt genauso bedrohlich wie trostlos, wie der Soundtrack zu Filmen eines David Lynch oder eines John Carpenter

VON TIM STÜTTGEN

Eine echte Kultband lässt sich nicht planen und auch nicht am Reißbrett des Promotion-Office konstruieren. Echte Kultbands werden einfach Kult, was auch immer sie dafür oder dagegen tun. Bohren & der Club of Gore sind so eine Band und nebenbei eines der vielleicht langsamsten Musikkollektive der Welt. Ihrem einzigartigen Stil hat man aus einer Mischung aus Faszination und Hilflosigkeit das Label Doom Jazz gegeben. Ihre Musik klingt wie ein langsamer Soundtrack, bedrohlich und trostlos, wie die dunkle Magie eines Kinos zwischen David Lynch und John Carpenter. Dass es vor dem imaginären Kinosaal nebelt, ist quasi selbstverständlich. Und dass die Alben der Band Titel wie „Black Earth“ oder „Midnight Radio“ tragen, sowieso. Stil verpflichtet nun mal.

Ich erinnere mich noch an den wahrscheinlich ersten und einzigen Fernsehauftritt des Mülheimer Quintetts, ein seltsamer Höhepunkt der deutschen TV-Historie. Die Musiker stapften durch die trostlosen Straßen, es war dunkel und kalt. Irgendwann betraten sie eine Videothek. Dort verloren sie sich konzentriert zwischen den Regalen, um den richtigen Horrorfilm zu finden. Denn der Horrorfilm ist das Genre, in dem sich die Band zu Hause fühlt. Das hört man ihnen an. Das kann gar nicht anders sein.

Morten Gast, mit dem ich während seines Nachtjobs beim Telefondienst im städtischen Wasserwerk telefoniere, ist ein Fachmann und waschechter Nerd vor dem Herren, der sich besser in der Geschichte des Splatterfilms auszukennen scheint als mancher Filmwissenschaftler: „Ich schaue nur ältere Sachen. George Romero’s ‚Zombie‘ oder Dario Argento sind gut, das ganze alte italienische Zeug. Aber das ist vorbei. Wenn jetzt europäisches Zeug kommt, weißt du sofort: Auweiowei!“ Wenn Morten etwas hasst, sind es die Kompromisse des Mainstream-Kinos. Oder die der Mainstream-Musik.

Der Sound von Bohren & der Club of Gore hat sich einem anderen Ehrenkodex verschrieben. Es geht um nichts weniger als eine stilistische Konsequenz, die in der Tradition radikaler sonischer Antihaltungen wie Death Metal steht, einem Stil, den die ganze Band schlicht als „ehrenwert“ bezeichnet. Nur wurde Metal eben aus dem Programm gestrichen und der zeitliche Raum ins Unendliche gedehnt. Damit wurde der Bohren-Sound zu einer nicht enden wollenden Entdeckungsreise der finstersten Langsamkeit. Das führte in letzter Konsequenz zu namenlosen, zehnminütigen Stücken in Zeitlupenschleifen, die genauso auch eine Hand voll Untoter in einer Bar hätten eingespielt haben können.

1994 begann die Band mit dieser Mission und veröffentlichte auf kleinen Hardcore-Labels obskure Singles mit Titeln wie „Schwarzer Samt für Dean Martin“. Bald spielte sie erste Konzerte vor Punks, Metals und Hardcore-Fans in dreckigen Kellern Nordrhein-Westfalens. Der damals begonnene Trip währt bis heute. Die Verfeinerung der musikalischen Parameter hat noch nicht ihre Grenzen erreicht.

Mit „Sunset Mission“, seinem romantischsten Album aus dem Jahr 2000, wuchs der Club of Gore schlagartig über einen Underground-Kontext hinaus. Mit dem Improv- und Jazzsaxofonisten Christoph Clöser kam ein neuer Impuls in die Band, wurde der Doom bluesiger und der Jazz sinnlicher – für Bohren-Verhältnisse natürlich. Das brachte sämtliche Fachzeitschriften von Spex bis Jazzthing zum Schwärmen. Als Krönung schrieb selbst der Playboy: „Ein scheues Meisterwerk“. Eine Kultband ward geboren. Unbeeindruckt raffte die Band sich zu Tourneen auf, flüsterte düstere Ansagen ins Mikro und spielte im Halbdunkel, in stilsichere Anzüge gekleidet, ihre langsamen Sets herunter. Eine in ihrer konsequent effektlosen Haltung mehr als reizvolle Angelegenheit, die zwischen Monotonie und Schönheit pendelt. Das kann für das hypnotisierte Publikum schon mal eine Erfahrung zwischen Wachheit und Traum bedeuten – und auch für die Musiker zur Grenzerfahrung werden: „Wenn man so wenig spielt, ist jeder Ton wichtig. Der Entscheidungsprozess kriegt eine ganz andere Bedeutung. Man arbeitet da unheimlich am Detail. Das Arbeiten an den Stücken ist wirklich körperlich anstrengend“, kommentiert Christoph Clöser. Sein Tenorsaxofon, das er mit schlichter Eleganz beherrscht, verpasst dem Marsch durch die Berge der Finsternis eine fragile Poesie, die einen Hauch von Zeitlosigkeit atmet.

Diese Attribute treffen auch auf das neueste Produkt der Mülheimer Eigenbrödler zu. „Geisterfaust“ ist der Gore-Sound par excellence und ist nicht nur in der Songtitelwahl ein geschlossenes Epos. Die Stücke heißen „Zeigefinger“, „Daumen“, „Ringfinger“, „Mittelfinger“ und „Kleiner Finger“. Gleich der Opener geht zwanzig Minuten, die je nach Gemütsfassung vergehen wie ein Jahr oder eine Sekunde. „Geisterfaust“ ist perfekt, das Dokument einer waschechten Kultband, die weiß, wie man sich selbst treu bleibt. Das ist aber auch der kleine Haken im Bohren-Kosmos. Man kennt ihn jetzt langsam auswendig und kann sich nach der neuen Platte kaum vorstellen, dass man noch Neues in ihm entdecken wird.