Eine verrohte Nation

Die Journalistin Anna Politkovskaja bilanziert in „emotionalen Randnotizen“ Putins erste Amtszeit. Erschüttert beschreibt sie eine apathische und ängstliche Gesellschaft

VON BARBARA OERTEL

Die russische Journalistin Anna Politkovskaja ist das beste Beispiel dafür, wie es derzeit um die Pressefreiheit in Russland bestellt ist. Nach mehreren kritischen Reportagen über Tschetschenien erhielt sie Morddrohungen und musste für einige Zeit im Ausland Zuflucht suchen. Auf ihrem Flug nach Beslan im vergangenen September wurde sie Opfer eines Giftanschlages, den sie nur knapp überlebte. Nun veröffentlicht sie in „Putins Russland“ düstere „emotionale Randnotizen“, die das System darstellen, das westliche Experten so gerne als „gelenkte Demokratie“ bezeichnen.

Anna Politkovskaja macht keinen Hehl daraus, was sie von „ihrem“ Präsidenten hält. Kurz vor der Inauguration Putins im Mai vergangenen Jahres notiert sie: „Ein typischer Oberstleutnant des sowjetischen KGB mit der beschränkten, provinziellen Weltanschauung eines Oberstleutnants […], der es gewöhnt ist, seinen Mitmenschen nachzuspionieren.“ Im Jahr 2000 hatte Putin angekündigt, die tschetschenischen Terroristen, wenn nötig, sogar noch „auf dem Abort kaltmachen zu wollen“ und im Zuge der Neuauflage des Feldzuges gegen die Kaukasusrepublik die Wahl gewonnen. Letztes Jahr war der rhetorisch zum Anti-Terror-Kampf umgewidmete Krieg in Russland kein Thema mehr.

Für Anna Politkovskaja ist er es noch. Diesmal nähert sich die Journalistin der kremlkritischen Zeitung Novaja Gazeta dem Konflikt nicht aus der Perspektive der zivilen Opfer, sondern aus der von Armeeangehörigen und ihrer Familien.

Da ist die Geschichte des Oberleutnants Pawel Levurda, der auf dem tschetschenischen Schlachtfeld fällt und dort vergessen wird. Nach zermürbenden Nachforschungen schafft es seine Mutter Nina, den Kopf ihres Sohnes ausfindig zu machen, um wenigstens diesen zu bestatten. „Die Richtung, die unsere gegenwärtige Führung eingeschlagen hat, ist absolut neosowjetisch“, schreibt Politkovskaja. „Es gibt keine Menschen, es gibt nur Schräubchen, die die politischen Abenteuer derjenigen, die in den Besitz der Macht gelangt sind, widerspruchslos in die Tat umzusetzen haben. Diese Schräubchen verfügen über keinerlei Rechte, nicht einmal auf ein würdiges Sterben.“

Doch nicht nur der Krieg gebiert absolute Rechtlosigkeit. So fliehen 54 Soldaten aus einer Division im Wolgograder Gebiet, um ständiger Misshandlung und Demütigung zu entkommen. Dieses Beispiel erhellt in erschreckender Weise, was Russlands Armee war und ist: ein gigantisches Gefängnis, in dem sich höhere Dienstgrade an ihren Untergebenen austoben. Für viele Rekruten ist die Einberufung gleichbedeutend mit einer Reise ohne Rückfahrkarte. Für die Vorgesetzten hat dies meist keine rechtlichen Konsequenzen.

Solange die Order „von oben“ gilt, die Ehre der Armee um jeden Preis zu retten, versuchen selbst die Gerichte alles, um angeklagte Militärs mit fadenscheinigen Gutachten als psychisch krank zu erklären. Wenn einmal ein Offizier verurteilt wird, dann wiederum auch nur dank einer entsprechenden Anweisung „von oben“. So wurde Oberst Juri Budanow im Juli 2003 wegen der Entführung und Ermordung einer Tschetschenin zu 10 Jahren Haft verurteilt, weil Ende des Jahres Parlamentswahlen stattfanden. Denn: Sowohl die Putin-hörige Partei Edinnaja Rossija (Vereinigtes Russland) als auch der Präsident selbst warben mit dem Slogan: „Recht und Gesetz über alles“.

Das Verfahren gegen Budanow legt jedoch nicht nur die totale Abhängigkeit der Judikative von der Exekutive offen. Vielmehr weist Politkovskaja am Beispiel der medizinischen Gutachten akribisch nach, wie eng das Netz ist, das der Geheimdienst FSB wieder über das Land ausgebreitet hat. So fungierte die Leiterin des berühmt-berüchtigten Moskauer Serbski-Instituts, Tamara Petschernikowa, als Expertin. Besagte „psychiatrische Gutachterin der höchsten Klasse“ sorgte allerdings bereits 1968 dafür, dass einige der sowjetischen Demonstranten gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei auf Jahre in psychiatrischen Kliniken verschwanden. „Wie eine chronische Krankheit neigt die Geschichte zu Rückfällen. Heilung hätte nur eins bringen können: eine moderne Chemotherapie, die alle todbringenden Zellen vernichtet“, merkt Politkovskaja an. „Diese Heilungschance wurde verpasst, wir haben sämtliche sowjetischen Wanzen aus der UdSSR in das ‚neue‘ Russland mit hinübergeschleppt. Das Ende vom Lied – Staatssicherheit, wohin man blickt.“

Der Druck auf die Medien ist enorm. Und was die Staatsmacht durch ihren Druck noch nicht geschafft hat, erledigen viele Journalisten durch Selbstzensur und stellen manche Fragen erst gar nicht mehr. Nicht so Anna Politkovskaja. Im Oktober 2002, als Tschetschenen das Moskauer Musical-Theater Nord-Ost besetzten und hunderte von Geiseln nahmen, wurde sie als Vermittlerin eingeschaltet. Umsonst. Beim Sturm auf das Theater verloren fast 200 Geiseln und alle Geiselnehmer durch Giftgas ihr Leben. Warum, fragt Politkovskaja, kennen wir heute immer noch nicht die Wahrheit über die so genannte Befreiungsaktion?

Warum regt sich kein lautstarker Protest in der Gesellschaft, wo doch Nord-Ost und Beslan nur zwei Symbole sind, die für den zynischen Umgang des Systems mit seinen Bürgern stehen? „Wie sind wir verroht. So verroht, dass einem schlecht wird“, schreibt Politkovskaja, und: „Die soziale Apathie, die unsere Gesellschaft an den Tag legt, ist grenzenlos und garantiert, dass das Volk Putin auch in den nächsten vier Jahren alles straflos durchgehen lässt.“

Auf ein erneutes Tauwetter „von oben“ zu hoffen, wie seinerzeit unter Gorbatschow, sei dumm und unrealistisch, konstatiert Politkovskaja. „Nur wir selbst können das politische Klima ändern, sonst keiner“, schreibt sie. Zugegeben, der Weg bis dahin scheint derzeit noch weit. Doch auch in der Ukraine hätte noch vor wenigen Monaten niemand ernsthaft mit einem Aufbruch der Zivilgesellschaft gerechnet, der im vergangenen Dezember in einem Machtwechsel gipfelte. Am allerwenigsten war der Westen auf diese Ereignisse vorbereitet.

Anna Politkovskaja: „In Putins Russland“. Dumont Verlag, Köln 2005, 19,90 EuroAnna Politkovskaja erhielt am Donnerstag in Leipzig den „Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien“ für ihre Reportagen, die auf Deutsch im Buch „Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg“ (Dumont, 2003) erschienen sind.