Zurück ins Getümmel

Intensive Botschaften und einige anrührende Funde: die Ausstellung „1945 – der Krieg und seine Folgen“ im Deutschen Historischen Museum Berlin

VON CHRISTIAN SEMLER

Zugegeben: Jahrestage sind die Pest. Massiver medialer Materialeinsatz und anschließend Amnesie – bis zum nächsten Null-Datum. Eingedenk dessen hat es dieser 60. Jahrestag der bedingungslosen deutschen Kapitulation dennoch in sich. Der Epochenbruch des Jahres 1945 wird neu beleuchtet durch die Ereignisse, die einem zweiten Epochenbruch, dem des Jahres 1989, folgten. In den Jahrzehnten nach 1945 war die öffentliche Erinnerung an den von Nazi-Deutschland losgetretenen Weltkrieg und seine Resultate verblasst, überlagert durch die Erfolgsstory namens Bundesrepublik. Jetzt sind Furcht und Elend des Krieges in unseren unmittelbaren europäischen Erfahrungsbereich zurückgekehrt. Und das ist der Hintergrund, vor dem das dem 8. Mai 1945 gewidmete Ausstellungsprojekt „1945 – der Krieg und seine Folgen“ spielt.

Das Unternehmen, kuratiert von Burkhard Asmuss, speist sich aus den Beständen des Deutschen Historischen Museums und einer Fülle privater Leihgaben. Es tritt zurückhaltend auf, keine Inszenierungen, kein dräuender T-34-Panzer, keine Licht- und Geräuscheffekte. Die Exponate sind in Schaukästen auf grauem Podest untergebracht, umgeben von Plakaten und großformatigen Dokumenten. Dem vertrackten Museumsbau von I. M. Pei sind sieben Abteilungen abgewonnen, die in teils chronologischer, teils thematischer Reihenfolge die Kontinuitätslinie von 1945 bis heute ziehen. Keine Erlebnispädagogik, dem Kurator und den beschränkten Geldmitteln des DHI sei’s gedankt.

Natürlich setzt sich ein Projekt, das vom 8. Mai 1945 ausgehend das Verhältnis zum Krieg und zur bewaffneten Gewalt in beiden deutschen Staaten in so gedrängter Form über die Jahrzehnte hinweg verfolgt, notwendig dem Vorwurf aus, über alles und nichts zu handeln. Tatsächlich ist der Bogen teilweise zu weit gespannt. Sehr komplexe Vorgänge wie die allmähliche Wendung der (west-)deutschen Gesellschaft zu einer „Zivilität“, die mehrheitlich allem Militärischen fremd bis ablehnend gegenüberstand, ist mit politischen Plakaten und Dokumenten nicht beizukommen. Wie auch die Überwindung des schroffen Gegensatzes zwischen den verfeindeten europäischen Nationen in der Nachkriegszeit mit Hinweisen auf die Arbeit verschiedener Versöhnungsinitiativen, so wichtig diese waren, nicht erhellt werden kann. Hier hat die Ausstellung eine starke Schlagseite in Richtung offizieller Politik. Obwohl auch Staatsaktionen, wie die als Video-Clip präsentierte Rede des Präsidenten de Gaulle vor Mannesmann-Arbeitern, eine intensive Botschaft vermitteln. Auf dem schwierigen Terrain gesellschaftlicher Entwicklungen finden sich eine Reihe anrührender Funde. Zum Beispiel Dokumente über die Wiederaufnahme der Bundesrepublik in den Internationalen Fußballverband samt Erinnerungen an das erste Nachkriegsländerspiel gegen die Schweiz und ein Brief des Bundestrainers Herberger an einen seiner Schutzbefohlenen.

Die Ausstellung überrascht mit einer geglückten Integration der in der DDR spielenden politischen und gesellschaftlichen Prozesse in das Gesamtkonzept. Franz Fühmann, der bedeutende DDR-Schriftsteller, der sich vom Jungnazi zum überzeugten Kriegsgegner und Sozialisten später zum Inspirator der linken, demokratischen Oppositionellen wandelte, erfährt hier die ihm gebührende Würdigung. Die „Bausoldaten“ in der DDR werden zu den Zivis in der Bundesrepublik in Beziehung gesetzt, wie auch die DDR-Initiative „Schwerter zu Pflugscharen“ im Rahmen der Friedensbewegung der Achtzigerjahre verortet wird. Man hätte sich noch eine Erinnerung an Jürgen Fuchs gewünscht und seinen präzisen Blick auf die Nationale Volksarmee.

Die durchgehaltenen Kontinuitätslinien von 1945 her sind dort überzeugend, wo öffentliche Personen vorgestellt werden. Zum Beispiel Heinrich Böll. Wir sehen Essnapf und Löffel seiner Soldatenzeit. Und wir versuchen vergeblich, die vielfach korrigierten Seiten seines Redemanuskripts für die Friedenskundgebung 1981 zu entziffern. Zu Recht räumt die Ausstellung der Auseinandersetzung über die Wiederbewaffnung, der Paulskirchenbewegung, dem Streit um die Stationierung der Pershing II bzw. SS-20-Raketen bis hin zu den erbitterten Debatten um die Bombardierung Jugoslawiens 1999 breiten Raum ein. Manchmal hat man das Gefühl, sich mitten ins Getümmel zurückversetzt zu sehen. Was früher Agitprop war, erreicht jetzt museale Dignität. Aber das ist eben die Folge des durch kriegerische Gegenwart veränderten historischen Blicks.

Die Ausstellung trägt den Untertitel „Kriegsende und Erinnerungspolitik in Deutschland“, aber der Geschichtspolitik im genauen Wortsinn ist eigentlich nur der letzte Teil der Ausstellung gewidmet. Die Exponate illustrieren hier die Auseinandersetzungen der letzten Jahre um das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“, um den Bombenkrieg der Alliierten und den Versuch der Neonazis, die historische Konjunktur zu nutzen – zuletzt am Beispiel der Zerstörung Dresdens. Wollen wir jetzt allesamt nachträglich Opfer sein? Die Ausstellung wirft diese Frage nicht auf, aber sie produziert Beunruhigung. Nicht das schlechteste Ergebnis.