Der Mann mit dem Horn

Zu seinem 75. Geburtstag gab der Saxofonist Ornette Coleman, Free-Jazz-Pionier und Entwickler der Harmolodics, eines Regelwerks zur demokratischen Improvisation, eines seiner raren Konzerte

Colemans Saxofon ist von einer feinen Eleganz, die nichts vom Schlag-drauf-und-Schluss-Hupen seiner Kollegen hat

VON TOBIAS RAPP

Man muss Schönheit auch zulassen können. Ein wenig sträubt man sich gegen sein eigenes Applaudieren, das sich in die Ovationen einfügt, mit denen Ornette Coleman zu Beginn seines Londoner Auftritts begrüßt wird. Ist man es nicht schon seiner eigenen Erwartungshaltung schuldig, in den kommenden anderthalb Stunden alles toll zu finden? Es ist der einzige Auftritt Colemans in Europa, angekündigt als das „75th birthday concert“, was zur Hälfte gemogelt ist, weil er im März Geburtstag hat – wenn man aber bedenkt, wie selten Coleman auftritt, nicht ohne eine gewisse Berechtigung: Es ist eines der paar wenigen Konzert jenes Jahres, in dem Ornette Coleman 75 Jahre alt geworden ist. Andere sind bislang nicht angekündigt.

Er ist der letzte der großen fünf Jazz-Erneuerer, der noch am Leben ist, und neben Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane und Miles Davis wahrscheinlich auch derjenige, der am allerwenigsten auf jenes Podest passt, auf das jene Wellen von Applaus ihn gerne spülen wollen, als er im weißen Anzug gemeinsam mit seinem Quartett die Bühne des Barbican Centers of the Arts betritt. Denn auch wenn sein Name automatisch Free Jazz signalisiert: ist Coleman doch ein eigentümlicher Solitär geblieben – nicht dass er einflusslos geblieben wäre, im Gegenteil. Doch es gibt keine Schüler, die auf seinen Spuren wandeln, keine Schule, die seinen Maßgaben folgen würde. Er hat sich fortwährend gewandelt und ist einfach immer noch da. Ornette Coleman, der Mann mit dem weißen Plastikhorn.

Er spielt zusammen mit seinem Sohn, dem Schlagzeuger Denardo Coleman, und zwei Bassisten: Greg Cohen und Tony Fallanga. Ersterer ein gefragter Sessionmusiker, der sonst mit so unterschiedlichen Leuten wie John Zorn oder den Rolling Stones spielt, Letzterer ein klassisch ausgebildeter Konzert- und Klezmermusiker. Mit „Ramblin’“ fängt er an, einem freien Blues von 1960, als er mit seiner Gruppe innerhalb von 14 Monaten ein halbes Dutzend Alben einspielte, die die Jazzwelt auf den Kopf stellten, die jener Musik den Weg bereiteten, die sich schließlich nach dem letzten Album jener Zeit benennen sollte: „Free Jazz“. Tatsächlich waren diese Monate so fruchtbar und für die Entwicklung des Jazz so bestimmend, dass sie Colemans restliche Karriere bis heute überstrahlen – und das, obwohl er das Herzstück seines musikalischen Tuns erst zehn Jahre später entwickeln sollte.

Harmolodics (es setzt sich aus Har-mony, Mo-vement und Me-lodics zusammen) heißen die ehernen Gesetzestafeln, nach denen Coleman spielt – die umso geheimnisvoller sind, als dass ihr genauer Inhalt nur vage bekannt ist. Zur Aufführung seiner Sinfonie „Skies Of America“ droppte er den Begriff zum ersten Mal, doch außer Ornette Coleman selbst weiß bis heute niemand so richtig, wie man sich seine Musiktheorie wirklich vorzustellen hat. Zwar kündigt er immer mal wieder an, ein großes Buch über Harmolodics schreiben zu wollen, doch Vertraute, die einen Blick in die Aufzeichnungen werfen durften, berichten von einigermaßen änigmatischen Notizen.

Coleman selbst äußert sich in Interviews immer nur sehr allgemein und die Musiker, die längere Zeit mit Coleman spielen, die also harmolodisch spielen können, weichen meistens aus, wenn sie erläutern sollen, was es mit dieser Theorie auf sich hat: „Wenn man weiß, dass jeder Ton Bestandteil eines ganzen Spektrums von Tönen sein kann, dann schult man sich auf diese Art zu denken, und als Ergebnis kommt man zu Melodien, von denen man vorher nicht wusste, dass es sie gibt“, sagte etwa der Bassist Jimmy Garrison.

„Die Zivilisation, in der ich aufgewachsen bin, war eine Kastenzivilisation“, sagte Coleman selbst vor Jahren im Interview mit dem britischen Musikjournalisten David Toop. „In der Zivilisation, von der ich träume, dass sie eines Tages existieren wird, wird jeder Mensch, unabhängig von Rasse, Glaube oder Hautfarbe, von Begabung, Wissen oder sexueller Präferenz einen Weg finden Individuum zu sein und Beziehungen zu anderen einzugehen.“ Es ist eine Theorie, so viel darf als gesichert gelten, die eher auf die Verhältnisse von Tönen zueinander als auf den einzelnen Ton setzt, die ein Modell dynamischer Harmoniefolgen auf Basis dialogisch getroffener Entscheidungen vorschlägt. Eine Methode, die, wieder David Toop, harmonische und unabhängige Improvisation erlaubt und dabei eine „expressive Umgebung schafft, in der der Beitrag eines Spielers nie den eines anderen übertönt“. Jazzintern gesprochen also der Versuch, die Aufteilung von improvisierendem Solisten und festgelegter Begleitung zugunsten eines allseitigen instant composing aufzulösen. Colemans Vorliebe für pianolose Formationen haben – so viel ist sicher – ebenfalls mit den Harmolodics zu tun: Seine Musik kommt ohne Akkorde aus.

Wenn man so will, ist der Umstand, dass man Harmolodics nur im konkreten Spiel mit Coleman erlernen kann, auch Zeichen ihres grunddemokratischen Charakters: der autoritäre Auftritt eines gültigen Gesetzbuches findet nicht statt. Was zählt ist der musikalische Prozess.

Und worum es bei den Harmolodics auch immer gehen mag – wann immer Toni Negri und Michael Hardt sich für die Freefolk-Schreckschraube Ani DiFranco und ihr von sozialrevolutionären Texten begleiteten Muckerkitsch begeistern, wünscht man ihnen einen multitudischen Nachmittag am harmolodischen Küchentisch im Hause Coleman –, die Freude an Colemans Musik kommt tatsächlich auch ohne Musiktheorie-Hauptseminarschein aus. Harmolodics legen ein Set an Regeln fest, anhand dessen die Musiker kommunizieren.

Wenn man dieses Quartett auf der Bühne sieht, stellen sich diese Fragen ohnehin nicht wirklich, lösen sich auf in der Bewunderung für diese Leichtigkeit, mit der sie sich durch ein Set mit dem Besten aus Colemans Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern spielen. Ob es „Congeniality“ oder „Lonely Woman“ von 1960 oder „Three Wishes“ ist, 1988 mit dem Grateful-Dead-Gitarristen Jerry Garcia eingespielt – man kann den Themen folgen, wie sie vom Bass zum Saxofon wandern, wie das Schlagzeug sie beschleunigt, das Saxofon sie moduliert. Wie Coleman sie immer wieder in seine typischen Phrasen überführt, dieses hektische Umspielen eines kleinen Motivs, das einen wilden Notenschauer niedergehen lässt, um die Figur dann in einer größeren Klangeinheit expressiv quietschend nach oben zu führen.

Das transportiert immer auch ein Country-Gefühl, den schmalen Funk des ehemaligen R-&-B-Saxofonisten, als der er damals in Fort Worth, Texas, angefangen hat Musik zu machen. Coleman mag zwar nur wenige Standards geschrieben haben – Stücke, die in den Jazzkatalog eingegangen sind –, seinen Saxofonsound erkennt man aber sofort. Sein Klang ist von einer feinen Eleganz, die sich ums Ganze vom virilen Schlag-drauf-und-Schluss-Hupen eines Archie Shepp oder dem verzückt-ekstatischen Tröten eines Albert Ayler unterscheidet.

So sehr Coleman auch immer mit Free Jazz assoziiert wird, mit dem wilden Freak-outs, die man gemeinhin mit dieser Musik verbindet, hatte er schon damals recht wenig zu tun. Mit „Free Jazz“ (seine erfolgreichste Platte war allerdings „Song X“ mit, jawohl, Pat Metheny – dafür wurden sie sogar mit Platin ausgezeichnet) gab er der Bewegung zwar einen Namen. Doch weder die Black-Thang-Rhetorik jener Szene war für ihn von Interesse, noch die im engeren Sinne freie Improvisation. Als jemand, der unter ärmsten Bedingungen in einer schwarzen Gegend von Fort Worth aufgewachsen war und oft genug für seine schrägen Töne auf die Mütze bekommen hatte, war ihm die Beschränkung auf eine von der Hautfarbe aus gedachte Identität immer suspekt. Und selbst „Free Jazz“, so krachig sich die Platte anhört, folgt klaren formalen Vorgaben.

Tatsächlich war Coleman damals am ehesten noch dann frei, wenn er seine Trompete quälte oder auf der Geige herumkratzte. 1963, die Free-Jazz-Bewegung setzte gerade zu ihrem kreativen Höhenflug an, zog er sich für zwei Jahre zurück, um die beiden Instrumente zu „entlernen“, wie er es damals nannte. Dafür erntete er damals einigen Hohn (wobei es fairerweise anzumerken gilt, dass von seinen Sessions mit John Coltrane und Albert Ayler keine Aufnahmen erhalten sind). 40 Jahre später hat er seinen entlernten Zugang jedoch so weit perfektioniert, dass die beiden Instrumente in seinen Händen tatsächlich nach nichts klingen, was man schon einmal gehört hätte: Da werden einfach kleine quecksilbrige Akzente in den Tonstrom getupft. Tony Falanga macht sich währenddessen in den hohen Tonlagen seines Bass zu schaffen, schippt immer wieder eines von Colemans Motiven zurück, während Greg Cohen immer wieder lächelnd zu Denardo herüberschaut, der tatsächlich spielt wie alle vorherigen Coleman-Drummer auf einmal – filigran wie Billy Higgins und machtvoll perkussiv-verspult wie Ronald Shannon Jackson hält er den Takt, um parallel dazu auf seinem Set herumzurühren und zu zischeln. Seit er zehn Jahre alt ist, 1966 war das, spielt er mit seinem Vater, seit den späten Siebzigern bei fast allen Aufnahmen.

Es ist ein ganz im Hier und Jetzt beglückendes Konzert, die Ovationen, die Coleman noch zweimal für Zugaben zurückholen, enden schlussendlich nur, weil man dem älteren Herrn die Anstrengung dann doch nicht zumuten möchte, unendlich weiterzuspielen. Ein Jazzfest, das seinen Namen verdient, würde jedes Jahr Himmel und Hölle in Bewegung setzen, Ornette Coleman zu verpflichten.