Ein Leben in der „Food Desert“

Armut gehört zu den größten Risikofaktoren für die Gesundheit. Auch der durch die Perspektivlosigkeit verursachte Stress verkürzt das Leben

„Armut macht krank“, dieser Satz gilt in der medizinischen Soziologie schon lange als Tatsache. Und er gilt heute mehr denn je. Auch für den Deutschen Ärztetag diese Woche war dies ein bedeutsames Thema. Das Europäische Armutsnetzwerk schätzt, dass arme Menschen ein zehnmal höheres Gesundheitsrisiko haben als nicht Arme. Und die Weltgesundheitsorganisation WHO betont immer wieder den „Teufelskreis von Armut und Krankheit“: Wer arm ist, wird schneller krank, und wer krank ist, wird schneller arm.

Die Risikoquoten für die einzelnen Krankheiten fallen allerdings unterschiedlich aus. So steigt das Risiko für einen tödlichen Infarkt in einem sozial unterprivilegierten Stadtviertel um 30 Prozent. In Ländern mit hoher Armut gibt es laut WHO etwa doppelt so viele Krebskranke wie in entwickelten Ländern, und laut einer aktuellen englischen Studie verfallen junge Männer mit geringer Intelligenz und entsprechend geringen Aufstiegschancen fast dreimal so oft in Depressionen, die in Selbstmord münden. Wer als Kind in einem Ghetto aufwächst, hat sogar ein bis zu 21-fach erhöhtes Asthmarisiko.

Die unterschiedlichen Quoten geben bereits Hinweise darauf, dass nicht die Armut an sich gesundheitsschädlich ist. Es sind die Einzelfaktoren, die mehr oder weniger mit ihr zusammenhängen. So findet man unter sozial unterprivilegierten Menschen mehr Raucher sowie mehr Bewegungsmangel und fette Kost. Im Liverpooler Stadtteil West Everton war Ende der Neunzigerjahre sogar von einer „Food Desert“ die Rede, weil sich die Bewohner aus Mangel an Angebot überwiegend aus den Dosen eines Supermarkts ernährten. Etwa 40 Prozent von ihnen litten an einer chronischen Krankheit, über die Hälfte war übergewichtig. Und „Food Deserts“ gibt es auch in Deutschland, obwohl hiesige Supermärkte mittlerweile mehr Frischkost im Angebot haben. Doch deren Obst- und Gemüseregal fristet in sozialen Ballungsräumen eher ein Schattendasein, mit H-Milch, Softdrinks und Fertigmahlzeiten werden dort weitaus größere Umsätze gemacht.

Ein weiterer gesundheitsschädigender Aspekt der Armut: Sie wird gern dort angesiedelt, wo es viel Verkehr und wenig Grün gibt, was vor allem das Asthmarisiko erhöht. Ganz zu schweigen von Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Verschuldung sowie Partnerschafts- und Erziehungsproblemen, die den unterprivilegierten Menschen öfter unter schädlichen Stress setzen als andere. Auch sucht er nur selten medizinische Hilfe. Vorbeugemaßnahmen werden kaum genutzt, selbst im Falle einer bereits bestehenden Erkrankung wird oft auf den Arztbesuch verzichtet. Und damit sinken vor allem die Heilungschancen bei Krankheiten, deren Therapien auf disziplinierter Mitarbeit beruht.

Professor Gerhard Trabert vom „Verein Armut und Gesundheit in Deutschland“ warnt jedoch davor, armen Menschen, die das medizinische Angebot der Gesellschaft nicht nutzen, ein schuldhaftes Verhalten zu unterstellen. Denn die seien es nicht gewohnt, „aktiv etwas für ihre Gesundheit zu tun“. Die Anbieter gesundheitlicher Leistungen dürften nicht passiv auf sie warten, sondern müssten aktiv auf sie zugehen.

In Skandinavien und den Niederlanden gehören mobile Gesundheitszentren für Arme und Obdachlose bereits zum Stadtbild. In Deutschland stecken solche Konzepte noch in den Kinderschuhen. Trabert selbst arbeitet seit einigen Jahren mit Kollegen in einer Mainzer Obdachlosensiedlung sowie in einem beweglichen „Arztmobil“. Die Finanzierung dieses Projekts gestaltet sich immer noch schwierig. Aus öffentlicher Hand kommt nur wenig Unterstützung; die per Gesundheitsreform neu anfallenden Gebühren für die Patienten bezahlt Trabert von seinem Gehalt.

JÖRG ZITTLAU