Die Jahre des dritten Wegs

Das Deutschland der Nachkriegsjahre war keine Wolfs-gesellschaftNeben krassem Egoismus stand Solidarität, neben Verzagtheit Hoffnung

VON CHRISTIAN SEMLER

Wie soll man die Gesellschaft charakterisieren, die sich im besetzten Deutschland zwischen der bedingungslosen Kapitulation im Frühling 1945 und der doppelten Staatsgründung im Herbst 1949 herausbildete? In der Zeitgeschichtsschreibung hat sich der Begriff „Zusammenbruchsgesellschaft“ durchgesetzt. Nicht übel, denn er umgreift ein historisches Faktum – eben den Zusammenbruch des Nazi-Herrschaftssystems samt dessen totalitären Zugriff auf die Gesellschaft – und er spiegelt die damalige Selbsteinschätzung der Deutschen wider. Denn die sprachen damals in ihrer großen Mehrheit nicht von Befreiung, sondern verschanzten sich hinter einem neutralen Terminus, der noch dazu die Sache auf den Begriff zu bringen schien. Wie es über 50 Jahre später mit dem Begriff der „Wende“ geschah.

Die vier Jahre 1945 bis 1949 standen lange im Schatten der großen Erfolgsstory namens Bundesrepublik. Das hatte Folgen. Denn das eingeschliffene historische Argumentationsmuster lautete: Es ist so gekommen, deswegen hat es auch so kommen müssen. Post hoc ergo propter hoc. Gemessen daran, dass sich in den drei westlichen Besatzungszonen Westorientierung und Wiederbewaffnung, die Einbindung in die Nato und der „rheinische“ Kapitalismus durchsetzten und schließlich 1989/90 in ganz Deutschland den Sieg davontrug, erscheinen anders geartete, alternative gesellschaftliche Vorstellungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit wie Irrlichter, ohne dauerhaften Einfluss, ohne Folgen.

Gewiss, 1945 brach nicht nur ein Staat, das großdeutsche Reich, zusammen. Die Trümmerlandschaft Deutschland bezeichnete über die allgegenwärtigen Ruinen hinaus auch gesellschaftliche Desorganisation und seelische Zerrüttung. Noch gänzlich der Nazi-Ideologie verhaftete Stereotype verbanden sich mit einer Rückwendung zur Innerlichkeit und den „ewigen Werten“, wie eindringlich die Abituraufsätze belegen, die Rolf Schörken in seinem Buch „Jugend 1945“ versammelt hat. Die Deutschen der unmittelbaren Nachkriegszeit waren – im Wortsinn – ein Volk unterwegs. Flüchtlinge, Vertriebene, Ausgebombte, Evakuierte, dazu noch die DP (Displaced Persons), die Zwangsarbeit und Konzentrationslagern entronnen und in Deutschland hängen geblieben waren. Während des Krieges war die Versorgungslage in Deutschland – auf Kosten der besetzten Länder – relativ erträglich gewesen. Die große Not setzte erst in der Nachkriegszeit ein. Es ging ums schiere Überleben, ums Hamstern bei den Bauern, ums „Organisieren“, sprich Diebstahl, um Schwarzhandel. Einziger Fluchtpunkt war oft die Familie. Auch sie erwies sich meist als zerrüttet.

Der Zusammenbruch in Deutschland war aber nicht allgegenwärtig. Im Westen blieben große Teile des modernen Industriepotenzials erhalten. Ganze Viertel der Großstädte – meist die der Bourgeoisie – waren wie die Zentren der agrarischen Produktion der Zerstörung entgangen. Vor allem aber war das Deutschland der ersten Nachkriegsjahre keine Wolfsgesellschaft. Neben dem mit dem Überlebenskampf verbundenen krassen Egoismus stand Solidarität, und neben Verzagtheit und Perspektivlosigkeit Hoffnung. Hoffnung auf ein neues Leben, Hoffnung auf eine neue gesellschaftliche Ordnung.

Hier gilt es als Erstes, sich einem für die Zusammenbruchsgesellschaft grundlegenden Faktum zuzuwenden: der dreijährigen Dominanz der Frauen. Das traf nicht nur für die Demografie zu. In Abwesenheit der Väter übernahmen die Mütter in der Familie die Aufgaben der Ernährung wie der Erziehung. Freilich erzwangen die Verhältnisse diesen Wechsel in den Geschlechterrollen, nicht eine emanzipatorische Bewegung. Wie sollten sich auch deutsche Frauen angesichts des Mangels an Geld oder Kleiderstoffen praktisch in Auseinandersetzungen wie den „Krieg der Röcke“ einmischen, bei dem sich in Westeuropa und den USA viele Frauen gegen die Wiederkehr des traditionellen Weiblichkeitsideals in der Mode wandten. Schon früh setzte in Deutschland eine Tendenzwende zum überkommenen Frauenbild ein. 1949 hielten 89 Prozent der Frauen die Ehe für „grundsätzlich notwendig“, nur 4 Prozent meinten, sie sei „historisch überholt“.

Dennoch hinterließ die Zeit der Frauenherrschaft Spuren. Alexander von Plato und Almut Leh sprechen in ihrer Studie „Ein unglaublicher Frühling“ von zwei widersprüchlichen Tendenzen – der aufgezwungenen und später abgeschüttelten Rolle einerseits, einem neuen Selbstbewusstsein andererseits, einer Hoffnung, die den Töchtern dieser Frauengeneration übermittelt wurde und der in der zweiten Hälfte der 60er Taten folgten.

Lange Zeit wurden von westdeutschen Historikern auch die Formen betrieblicher und städtischer Selbstorganisation nicht beachtet, die unmittelbar vor Kriegsende von Antifaschisten ins Leben gerufen wurden, aber das Ende des Jahres 1945 aufgrund alliierten Verbots nicht überlebten bzw. in der sowjetisch besetzten Zone gleichgeschaltet wurden. Diese Betriebsausschüsse und Antifas organisierten in Abwesenheit der geflohenen oder festgesetzten Machthaber die Aufnahme der Produktion und die öffentliche Versorgung. Sie waren links, überparteilich mit starkem kommunistischem Einfluss und verstanden sich als Kerne der sozialistischen Umgestaltung. Ihre Fortsetzung fanden die Betriebsratsausschüsse in der Betriebsrätebewegung, die bis ins Frühjahr 1948 mit großen Streikaktionen für die Vergesellschaftung des Ruhrbergbaus und eine demokratische Kontrolle der Lebensmittelversorgung eintrat. Der neu entstandenen Gewerkschaftsführung gelang es, die spontane Massenstreikbewegung zu kanalisieren. Der Kalte Krieg samt seiner Stigmatisierung der Kommunisten besorgte dann den Rest. Vielfach wurde diese Selbstorganisation als Werk der „alten Kader“ gesehen, wohingegen die „Flakhelfer“ oder „HJ“-Generation als unpolitisch und karriereorientiert beschrieben wird. Aber auch hier liegt eine Ex-post-Betrachtung vor, die sich zudem auf die späteren Gewerkschaftsfunktionäre konzentriert. Welche unterirdischen Verbindungen es zwischen den Massenstreiks der 40er-Jahre und den großen Septemberstreiks des Jahres 1969 und den späteren gewerkschaftsoppositionellen Aktivitäten bis zum heutigen Tag gab? Späte Untersuchungsfragen.

Wenn von Hoffnung, wenn von Aufbruch nach 45 die Rede ist, so meist im Zusammenhang der Kultur und der politisch-literarischen Publizistik. „Soviel Anfang war nie“ lautet der Titel eines von Glaser/von Pufendorf und Schöneich herausgegebenen, dem Thema gewidmeten Sammelbandes. Oft werden die drei Jahre bis zur Währungsreform 1948 der ihr folgenden konformistischen Einöde des Wirtschaftswunderlandes gegenübergestellt. Natürlich ist hier Mythenbildung am Werk, an der die damaligen Akteure fleißig mitstrickten. Sieht man genauer hin, so hat diese kurze Zeitspanne eigentlich mehr angeknüpft und wiederbelebt als grundlegend Neues geschaffen. Selbst die Kahlschlagliteratur jener Jahre, eine realistische Strömung, die sich gegen die verlogene Überhöhung des „deutschen Schicksals“ wandte, kam über viel versprechende Anfänge nicht hinaus. So dass eine selbstständige Auseinandersetzung mit den intellektuellen und künstlerischen Hauptströmen Nachkriegs-Europas erst in den geschmähten 50er-Jahren begann.

Dennoch war das kulturelle Leben von Hoffnung und Aufbruch geprägt. Die Konzertsäle, die Theater, die Kabaretts, darunter viele Neugründungen, waren übervoll. Anspruchsvolle Zeitschriften wie Der Ruf oder die Frankfurter Hefte hatten Auflagen, von denen heutige Verleger nicht mal zu träumen wagen. Der Heißhunger nach zwölf Jahren Monumentalkitsch und seichtester Unterhaltung schien selbst vielen kritischen Zeitgenossen als Vorgriff auf eine humanes, besseres Deutschland. Man muss hierbei bedenken, dass es in den Jahren bis zum offenen Ausbruch des Kalten Krieges und der Berliner Blockade 1948 enge kulturelle Beziehungen zwischen den vier Besatzungszonen (und Berlin als fünfter) gab, wobei die in der SBZ parteioffiziell vertretende Linie der „antifaschistisch-demokratischen“ Umwälzung für viele Intellektuelle der Westzonen ebenso Anknüpfungspunkte ergab wie für eine Reihe der Emigranten, denen der „Kulturbund“ unter Leitung des Schriftstellers und Kommunisten Johannes R. Becher die Rückkehr nach Deutschland erleichtern wollte.

Die vorherrschende politische Mentalität war die des „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und sowjetisch geprägtem Sozialismus, zwischen Ost und West. Oft patriotisch auf eine uns heute schwer verständliche Weise, meist europäisch gesinnt, mal mit versteckter, mal mit offen-schroffer Kritik an den Besatzungsmächten, denen man vorwarf, den Deutschen selbstständige Lernprozesse zu verwehren. Spiegelte diese Mentalität Gefühle der Mehrheit? Anfänglich ja. Aber der Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes und der Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den Westzonen folgte ein rasanter Mentalitätswandel. Massenhaft gingen die kulturellen und politischen Unternehmungen der Nachkriegszeit pleite. Manche der kulturellen Wegweiser dieser drei Jahre haben das Scheitern ihrer Hoffnungen nie überwunden, so der große Erich Kästner. Aber viele haben sich in der neuen Realität der Bundesrepublik eingerichtet, allein oder organisiert, wie im Fall der Gruppe 47. Oder sich in die günstigeren Gewässer späterer Jahrzehnte hinübergerettet. Und einige gilt es neu zu entdecken.