Jenseits der Akten

Kitsch, Klamotte, Klitterei? Vor dem Drehstart dienen Historiker zwar als Berater, doch nach dem Filmstart sind sie oft die schärfsten Kritiker – gerade bei Filmen, die im Nationalsozialismus spielen

Detailversessenheit alleine ergibt noch keine sinnvolle historische AussageWer sich ohne Fragen in Hitlers Bunker begibt, kommt ohne Erkenntnis heraus

VON JÖRG BECKER

„Die Vergangenheit ist das Revier des Kinos“, sagt der französische Drehbuchautor Jean-Claude Carrière. „Es lässt die Wikinger ins Herz Afrikas vordringen und die Marsbewohner nach Babylon. Maciste und Hercules begegnen sich und kämpfen gegeneinander. An welchem Ort genau? Ziemlich schwierig zu sagen.“ Das hat sich geändert, heute richten sich die Ambitionen auf Wirklichkeitstreue. Jahrzehnte lang hat man sich den Kopf darüber zerbrochen, wie Hitler darzustellen sei – nun spielt man ihn einfach nach, im Bemühen um durchgängige Authentizität. Wichtig ist dabei das patriotische Argument: Hollywood hat es nicht geschafft, die Bildhoheit an Hitler zu übernehmen. So ist es möglich, dass ein Film wie „Der Untergang“ als Wegmarke historischer Emanzipation vermarktet wurde, als Bruch mit einem Bilderverbot und Beweis von Aufgeklärtheit – nach dem Motto: „Hitler ist tot und Deutschland endlich erwachsen.“

Historische Filme gehen von historischen Beratern beglaubigt an den Start, auch wenn diese selten derart prominent mit dem Gegenstand verbunden sind wie Robin Lane Fox mit „Alexander“ oder Joachim C. Fest mit „Der Untergang“. Historische Genauigkeit ist ein production value. Während in den letzten Jahrzehnten die meisten Filme über die NS-Zeit eine Faschismustheorie mitlieferten, vermeidet die historical correctness jede Erklärung. Sie will Geschichte nach historistischer Manier des 19. Jahrhunderts erzählen. Ein Standpunkt, politisch und ästhetisch-kameratechnisch, ist nirgends auszumachen.

Die Filme, die vor „Der Untergang“ in der NS-Zeit spielten, nahmen oft Erinnerungen von Zeitzeugen zur Grundlage. Nun verabschieden sich die Nazis allmählich aus der persönlichen Erfahrung, das Gedächtnis geht unwiderruflich ins Archiv der Geschichte über. Mit der Inszenierung des Bunkerlebens nach den Beschreibungen vor allem Traudl Junges, Hitlers Privatsekretärin, die kurz vor ihrem Tod 2003 für die Dokumentation „Im toten Winkel“ von André Heller befragt wurde, scheint im Film von Eichinger und Hirschbiegel eine Blackbox geöffnet worden zu sein, deren Innenleben in der historischen Legendenbildung der Deutschen rumort.

Offenbar gehört ein Gespann für den historischen Spielfilm zusammen: Augenzeuge und Wissenschaftler, die eine Synthese aus Erinnerung und geschichtlicher Darstellung verbürgen sollen. Authentizität und Historizität: Zwischen diesen beiden Vektoren spielt sich eine unter Supervision stehende Geschichte „auf Augenhöhe“ ab. Die Sekretärin als Mitakteurin gibt die Perspektive vor, über sie ist der Zuschauer dabei, vermag dem persönlichen Verfall Hitlers nahe zu sein, gelangt in den privaten Reflex eines Geschehens, das Allgemeingut ist. Dabei existiert kein Bild von Hitler im Führerbunker, die Spuren seines Endes verlaufen sich im Dunkeln. Nun endlich inszeniert sich ein Film als Quelle, wie der Historiker Michael Wildt schreibt. „Der Untergang“ spielt Authentizität vor, sodass Filmbeschreibung und historische Nacherzählung seltsam diffundieren.

Je sparsamer man in den Details ist, umso weniger Fehler kann man begehen. Aber so schrumpft auch die Geschichte und verspricht wenig Spannung. Nachdem „Der Untergang“ auf dem Historikertag im September 2004 in Kiel aufgeführt worden war, bemerkte Hans Mommsen sinngemäß, die Filmemacher sollten das Geschichteschreiben den Vertretern eines „langweiligeren Berufs“ überlassen. Während sich die Inszenierung den Freiraum nimmt, sich aus den Fantasiespeichern der Vergangenheit zu speisen, muss sich der Geschichtswissenschaftler von diesem unsicheren Terrain fern halten. Denn er ist auf Abstinenz von der Anschauung verpflichtet, um zu begrifflicher Erkenntnis zu gelangen. Die Reduktion auf Personengeschichte sei zum Verständnis großer Prozesse völlig ungeeignet, sagt Hans Mommsen, zudem ergäben Detailversessenheit und lebensgetreue Darstellung noch keine sinnvolle historische Aussage.

Aber hier liegt das Missverständnis des Historikers: Hollywood trifft mit seinen actionreichen Historienfilmen, egal ob „King Arthur“, „The Gladiator“ oder „Amistad“, immerfort Aussagen über die eigene gegenwärtige Weltsicht und die Hegemonie seines Storytelling; in „Der Untergang“, diesem teuren deutschen Film, liegt die Aussage in einem Pathos von Rückkehr und Neubeginn, darin, zu erzählen, nicht zu kommentieren. „Es gibt kein Genre“ erklärt der Regisseur Oliver Hirschbiegel, „wir betreten Neuland.“ Ob damit der Mythos Führerbunker demontiert ist, nachdem Hitler nah, „auf Augenhöhe“ zu sehen gewesen ist? „Die unheimliche Atmosphäre im Bunker ist wunderbar eingefangen“, attestierte Hitler-Biograf Ian Kershaw, und für Christian Hartmann vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, den historischen Berater von „Der Untergang“, zeigt der Film „kein Monster, keine Karikatur, sondern einen Menschen“. Bei aller „sklavischen Quellenbindung“ verwundert es nicht, dass Albert Speer so gut wegkommt im letzten Gespräch mit Hitler, da man dessen Selbstdarstellung gefolgt ist. Ein kinotauglicher Film braucht das Fortleben menschlicher Eigenschaften und klarer Konflikte, selbst wenn man sie den Falschen andichtet.

Ein mit dem Begriff „historisches Drama“ etikettiertes Genre konzentriert sich aufs Einzelschicksal. Volker Schlöndorff tut dies in „Der neunte Tag“, Marc Rothemund in „Sophie Scholl“ und Dennis Gansel in „Napola – Elite für den Führer“. „Napola“ handelt von jenen Erziehungsanstalten, die der „Sicherstellung des NS-Führernachwuchses dienen sollten“. Der Film ist aus dem Bedürfnis des jungen Regisseurs entstanden, seinen Großvater zu verstehen, der eine solche Schule besucht hatte.

Gansel überführt oral history in Plotstrukturen nach Drehbuchdoktrin, er entwirft den Anekdotenparcours eines Schul- und Internatsfilms in den Farben des Dritten Reichs. Dafür gab es den deutschen Filmpreis für das beste unverfilmte Drehbuch 2003. „Napola“ vermittelt eine Neugier der dritten Generation, vorbei an den 68ern – warum hat die Jugend in den Eliteschulen an den Führer geglaubt? Bevor es zu spät ist, wird zur Begegnung mit der Kriegsgeneration aufgerufen.

Gehör für die letzten Zeitzeugen, Verständnis bis zur Empathie – längst im Gang ist eine Veränderung der Generationsfolge im deutschen „Familienroman“, in deren Folge die Perspektive versöhnlich wird. So glätten sich auch die Konturen der Bilder aus dem deutschen Faschismus; man erkennt das gedenkwürdige Opfer nun auch in der Erfahrung der NS- und Kriegsgeschichte an, erinnert Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg als Leidensgeschichte, die man vorher primär mit den Holocaust-Opfern identifizierte.

Der Autor und Zeitzeuge Hans Müncheberg (von ihm erschienen ist der Band „Gelobt sei, was hart macht“, Erinnerungen an seine Schulzeit bei der Napola), den die Produktionsfirma als Berater gewinnen wollte, hat frühzeitig zahlreiche Fehldarstellungen moniert: Szenen primitiver Indoktrination, das völlige Ausklammern der Kriegslage 1942/43 in der Anstalt, die Rollenklischees nationalsozialistischer Niedertracht. Durch bewusste Vergröberung lässt der Film die realen Gefahren einer vielschichtig angelegten nationalsozialistischen Indoktrination geringer erscheinen, als sie wirklich war. Daher wollte der historische Berater im Abspann nicht genannt werden.

Anfang der 80er-Jahre rückte die Suche nach dem Widerstand in den Nischen des Alltagslebens ins Interesse der historischen Diskussion. Es galt, den 20. Juli als Synonym für Widerstand gegen das Regime zu relativieren, doch ignorierte man den (neuerdings von Götz Aly noch einmal nachgewiesenen) hohen Grad an Konsens zwischen Führer und Gefolgschaft. Ein Akt des Widerstands bildet den Kern von Margarethe von Trottas „Rosenstraße“ (2003), einem Film, gegen den der Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, der Historiker Wolfgang Benz, schwere Vorwürfe wegen „Geschichtsklitterung“ erhob. Der Film erzählt die Episode eines Protests in der Rosenstraße, Berlin-Mitte. Im Februar 1943 wurden jüdische Männer, die bis dahin unter dem Schutz der Mischehe lebten, von der Werkbank weg verhaftet und im vormaligen Wohlfahrtsamt der jüdischen Gemeinde interniert. Den Gefangenen drohten die Vernichtungslager, doch draußen versammelten sich die Ehefrauen und warteten, bis ihre Männer nach einer Woche freigelassen wurden.

Benz sah darin eine verfälschende Dramatisierung der Tatsachen, weil diese Männer überhaupt nicht für den Abtransport vorgesehen gewesen seien. „Kitsch, Klamotte, Klitterei“, die lediglich eine Legende befestigen, kann der Historiker nicht durchgehen lassen. Dass es Margarethe von Trotta um einen erfolgreichen Akt des Widerstands ging, die politische Willensäußerung einer Frauengruppe, um ein Denkmal von Zivilcourage, ist für Benz inakzeptabel, da ein falscher Anschein von Authentizität erweckt würde.

Eine Unvereinbarkeit: Trottas „Rosenstraße“, als retrospektive Demonstration angelegt, will den Beteiligten ihre individuelle Verantwortung für den möglichen Widerstand zurückgeben. Da ist das Beharren auf Quellen und Kompetenzstrukturen im NS-Staat zumindest fragwürdig. „In der autoritären Auffassung des Staates“ – so notiert der Historiker Nathan Stoltzfus unter dem Titel „Wahrheit jenseits der Akten“ – „ist ‚Rosenstraße‘ als Ereignis ausgeschlossen.“

Der schlimmsten Form von Ideologie macht sich verdächtig, wer mit dem Anspruch auf Ideologiefreiheit auftritt. Die Analogie sei gewagt: Gipfel der Täuschung über historische Wirklichkeit ist die Behauptung des Authentischen, eine publikumswirksame Hochstapelei, der Zuschauer könne dabei sein. Die Konzentration auf Wahrhaftigkeit nimmt in dem Maße zu, wie der Erkenntnisgewinn daraus schwindet – und wer ohne Erkenntnisfragen ins Innere des Bunkers, in die Nähe Hitlers vordringt, wird ebenso aus dem „Untergang“ entlassen. Eine Tendenz der Medien setzt sich durch: Jede politische Einsicht wird zweifelhaft, Interpretationen der Geschichte liegen hinter uns, wir zeigen Fakten.

Wirklich oder nicht, „die Ereignisse sind die Frauen, die da gestanden und Mut bewiesen haben“, sagte Trotta zur „Rosenstraße“ Auch hier gibt es den Drang hin zum historischen Subjekt, allerdings aus entgegengesetzter Richtung, dargestellt als ein politisch und gesellschaftlich handelndes Wesen, das in eine historische Möglichkeitsform zurückversetzt wird. Der Anspruch ist also noch politisch-emanzipatorisch in der bewussten Fiktionalisierung authentischer Erinnerung. Schließlich das Genre „historisches Drama“: Es nimmt sich aller Zeiten an gleich einem Markt, auf dem Geschichtsstoffe gehandelt werden, und folgt seinen eigenen Gesetzen, Ikonografien und Klischees. Wenn letzte Zeugen oder Archivquellen denen nicht entsprechen – um so schlimmer für diese.