kleine schillerkunde (9)
: Die Willkür der Räuber

Wie Schillers Mobiliar im KZ Buchenwald nachgebaut wurde

Als Weimar 1942 drohte bombardiert zu werden, berieten Oberbürgermeister, Museumsdirektoren und Polizeipräsident über die Fortsetzung des Museumsbetriebs. Die Prunkstücke der Sammlungen würden in Depots ausgelagert. Der Polizeipräsident riet zu Duplikaten, die man anstelle der Originale ausstellen könnte. Die Möbeltischlerei der Deutschen Ausrüstungs-Werke (DAW) auf dem Gelände des KZs Buchenwald sei dafür geeignet, denn dort gebe es ausgezeichnete Möbeltischler. Einer Gruppe um den Tischlermeister Willy Werth befahl man kurz darauf, Schillers Schreibtisch, Bett und Spinett aus dem Arbeits- und Sterbezimmer, einen Nähtisch aus dem Empfangszimmer sowie drei Stühle aus dem Schillerhaus zu kopieren.

Ein perfider Auftrag: Zu Sklaven herabgewürdigte Menschen mussten die Möbel des Freiheitsdichters Schiller kopieren. In Buchenwald lautete der zynische Spruch überm Lagertor zwar nicht „Arbeit macht frei“, sondern „Jedem das Seine“, doch die Vernichtung durch Arbeit war auch in Buchenwald Programm. Selbst gedankliche Freiheit konnte für Steinbrucharbeiter oder Tischler nur eine illusionäre Ausflucht gewesen sein. Die Originale der Schillermöbel wurden im Frühjahr 1942 ins KZ transportiert. Im November 1943 waren die Möbelkopien fertig, und ein Stadtbaurat dankte SS und DAW für gute Zusammenarbeit.

„Gedankenfreiheit ist eine Erfindung der Despotie“, hat Johann Gottfried Seume 1805 in „Mein Sommer“ bemerkt. In Schillers „Don Carlos“ sagt Marquis von Posa zum spanischen König Philipp II.: „Geben Sie / Gedankenfreiheit.“ Man stelle sich den Marquis als KZ-Sträfling vor, der zum KZ-Kommandanten sagt: „Sehen Sie sich um / In seiner herrlichen Natur! Auf Freiheit / Ist sie gegründet […] Er, der große Schöpfer, […] lässt / Noch in den toten Räumen der Verwesung / Die Willkür sich ergetzen – Ihre Schöpfung, / Wie eng und arm! Das Rauschen eines Blattes / Erschreckt den Herrn […] – Sie müssen / Vor jeder Tugend zittern“ (Don Carlos, 3. Akt, 10. Auftritt). Hier scheint Klassik in vorbildlicher Allgemeinheit noch die blutigste Diktatur darstellen zu können. Doch weit gefehlt – „in den toten Räumen der Verwesung“ von Buchenwald ist kein KZ-Kommandant vor der Tugend auch nur theoretisch erzittert; er machte ihr im Tiefkühlexperiment oder sonst wie den Garaus.

„Die Originalmöbel und die sichergestellten Bücher aus dem Schillerhaus wurden bis zum Ende des Krieges […] im Keller des Nietzsche-Archivs sichergestellt“, berichtete 1999 Jens Schley in seiner Studie „Nachbar Buchenwald“. 1953 kamen sie wieder in den Fundus des Schillerhauses. Nach Recherchen von Dieter Kühn steht Schillers Schreibtisch heute in einem Magazingebäude am Ettersberg unterhalb des KZs. Kühn lässt in seinem gerade erschienenen Buch über „Schillers Schreibtisch in Buchenwald“ in gewagten Perspektivsprüngen sowohl das Leben Schillers als auch die gesamte NS-Kulturgeschichte Revue passieren. Dass nur die Schillermöbel im KZ kopiert wurden, die von Goethe aber nicht, sieht Kühn als subtilen Hinweis darauf, dass Schiller für die NS-Kulturpolitik wichtiger war als Goethe. Schillers Vorrangstellung ist gut dokumentiert durch die Kataloge der Ausstellung „Klassiker in finsteren Zeiten“, die 1983 im Marbacher Schillermuseum stattfand. Was die KZ-Kopien Goethe’scher Möbel 1942/43 verhinderte, hat die historische Forschung bisher nicht ermittelt.

Goethe hatte als bürgerlicher „Fürstenknecht“ unter Hitler schlechtere Karten als der antibürgerliche Schiller, der in Naziaugen „völkische“ Revolutionär. Entscheidend war wohl, was die Nazis von Goethe und Schiller jeweils gebrauchen konnten. Ein Flüsterwitz der NS-Zeit trifft diesen Sachverhalt gut: „Friedrich Schiller hat für jedes Land ein Drama geschrieben. Für Frankreich ‚Die Jungfrau von Orleans‘, für Spanien ‚Don Carlos‘, für England ‚Maria Stuart‘, für Italien ‚Fiesco von Genua‘, für Deutschland ‚Die Räuber‘.“ Ein Blick in den „Berliner Theateralmanach 1942“ zeigt, dass an 18 hauptstädtischen Bühnen Goethe mit vier, Schiller dagegen bloß mit drei Stücken vertreten war.

Die in Buchenwald gefertigte Kopie von Schillers Schreibtisch wurde 1999 als Teil einer Doppelausstellung von Schillermuseum und Gedenkstätte Buchenwald im ehemaligen Desinfektionsgebäude des KZs gezeigt. Ob sie in Verbindung mit einer Dokumentation über die kultische Vereinnahmung und das Zurechtbiegen Schillers zur „Standarte“ der NS-Kultur dauerhaft ihre einstigen geknechteten Erbauer repräsentiert? Die Häftlingsarbeit im Magazingefängnis – das sollte nicht der Museumsweisheit letzter Schluss sein. TOM WOLF