Im eigenen Bild gefangen

Weniger eine Chronik der Sechzigerjahre Amerikas als vielmehr die Geschichte einer sehr persönlichen Emanzipation: Joyce Carol Oates’ neuer Roman „Ausgesetzt“

Vielleicht hat sie sogar noch mehr veröffentlicht als John Updike. Und der hat nun wahrlich nicht wenig publiziert. Ihre Spannweite reicht von Short Stories bis zu Romanen, vom Jugendbuch bis zur Essayistik, von Psychothrillern, die sie unter dem Namen Rosamond Smith schreibt, bis zur Biografik. Mit „Blond“, der Romanbiografie über Marilyn Monroe, erzielte sie einen großen Erfolg. Wäre das Wort nicht so negativ besetzt, dürfte man Joyce Carol Oates mit Fug und Recht eine „Vielschreiberin“ nennen. Freundlicher gesagt: Sie schreibt einfach immer weiter an ihren Themen, Emanzipation der Frau, Bürgerrechte und Rassismus in den USA, die Weite der amerikanischen Landschaft und die Engstirnigkeit provinzieller Moral.

Darum geht es auch in dem jetzt auf Deutsch vorliegenden Roman „Ausgesetzt“, der unter dem Titel „I’ll Take You There“ 2002 in den USA erschienen ist. Die autobiografischen Anteile sind, wie in vielen ihrer Bücher, leicht zu erkennen: Wie Joyce Carol Oates wurde auch ihre Protagonistin im Norden des Bundesstaates New York in ärmlichen Verhältnissen geboren und studierte mit Hilfe eines Hochbegabten-Stipendiums Literatur und Philosophie an der nicht weit entfernten Syracuse University. Oates’ Protagonistin, die dort Anfang der Sechzigerjahre ankommt, hat keinen Namen, denn sie sucht noch nach ihrer Identität.

Von der strengen Aufseherin im Mädchenpensionat wird sie fortwährend verwechselt. Dabei ist sie durchaus etwas Besonderes, eine Fremde unter all den Mädchen, denn sie interessiert sich viel mehr für Spinozas Ethik als für Sexualität, vernachlässigt ihren Körper und zieht sich immer mehr von allen anderen zurück. In der elitären Gemeinschaft ihrer kichernden und giggelnden Kommilitoninnen hat sie nie eine wirkliche Chance, Anschluss zu finden.

Gegenüber dem schwarzen Studenten Vernor, in den sie sich verliebt, weil er so klug und so unnahbar ist, erfindet sie für sich den Namen Anellia, als müsse sie, um zu lieben, erst eine neue Person entwerfen. Von dieser Liebe, die sich gegen die rassistischen Vorurteile der Kleinstadtgesellschaft behaupten muss, handelt das zweite und umfangreichste Kapitel des Romans. Die Beziehung scheitert jedoch weniger an der feindseligen Umwelt als an den Liebenden selbst, an ihren Lügen und an ihrer Unsicherheit und daran, dass für Vernor Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie wichtiger ist als dieses seltsam verstörte Mädchen, das ihn mit seinen Emotionen bedrängt. Wenn das Ich eine Leerstelle ist, die erst der Andere mit seinen Vorstellungen füllt, dann kann es keine feste Basis für Gemeinsamkeit geben.

Im letzten der drei Kapitel schließlich reist die Erzählerin quer durch die USA zu ihrem todkranken Vater im fernen Bundesstaat Utah. Sie sitzt am Bett des Sterbenden, doch der Vater verbietet ihr, ihn in diesem Zustand zu sehen. Mit abgewandtem Gesicht und mit geschlossenen Augen muss sie sich ihm nähern. Sie hört nur seinen rasselnden Atem hinter sich. Durch eine List und mit Hilfe eines kleinen Taschenspiegels gelingt es ihr aber doch, einen Blick auf sein von Krebs und Operationen zerstörtes Gesicht zu werfen. Es ist eine Szene wie in der griechischen Mythologie: ein Kampf um Bilder und Vorstellungen. Denn wer ein Bild hat, hat auch die Macht. Dem Roman ist als Motto ein Zitat von Ludwig Wittgenstein vorangestellt, mit dem dieses Thema anklingt: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es nur unerbittlich zu wiederholen.“

„Ausgesetzt“ ist keine „Chronik der Sechzigerjahre Amerikas“, wie der Verlag behauptet, auch wenn die Erzählerin sich schließlich dafür entscheidet, in der Bürgerrechtsbewegung mitzuarbeiten. Ihre Emanzipation ist keine politische, sondern eine sehr persönliche und recht einsame Angelegenheit.

Joyce Carol Oates ist in diesem abgründigen Roman ganz bei sich und auf die inneren Zustände konzentriert: Forschungsarbeit am eigenen, vergangenen Ich. Oder, wie es einmal mit Nietzsche heißt: „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden.“ JÖRG MAGENAU

Joyce Carol Oates: „Ausgesetzt“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 334 Seiten, 19,90 Euro