Kritik des globalen Markttotalitarismus

Der Niedergang des Wohlfahrtsstaates gefährdet die Demokratie. Robert Castel will eine umfassende Reform der Sozialversicherungen, die Sicherheit für alle – und zudem neue Arbeitsplätze schafft

„Es ist, als ob sich hundert Jahre von Siegen in Luft auflösen“ – so lautete das Resümee, das der Historiker Robert Castel in seiner Studie über „Die Metamorphosen der sozialen Frage“ (UVK-Verlag, 2000) zog. In ihr zeichnete er die große Erzählung von der Emanzipation der Unterschichten nach – vom elenden Dasein als „unnütze Last der Erde“ bis zum modernen Sozialstaat, der am Eigentum nicht rührte. Er war kein Umverteilungsapparat, sondern schuf vor allem die Bedingungen für den modernen Kapitalismus: Sozialversicherung und „soziales Eigentum“ des Staates für eine disziplinierte, mobile und qualifizierte Arbeiterschaft; er beendete den Klassenkampf, nährte schließlich die Hoffnung auf eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“.

Was so erkämpft wurde, ist seit drei Jahrzehnten gefährdet. „Die Gesellschaft der Ähnlichen“, unabdingbare Voraussetzung substantieller Demokratie, löst sich auf. Der Markt entwindet dem Staat die Instrumente zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse; unter dem Druck des globalen Markttotalitarismus zerbröseln die Grundlagen kollektiver Solidarität; die „berufliche Entqualifizierung der Massen“ schwächt die soziale Macht jedes Einzelnen.

Vier mögliche Wege in die Zukunft sah Castel: ein „neues Mittelalter“ mit einer rechtlosen Unterschicht von Überflüssigen; einen stabilisierten Status quo, in dem die Ausgegrenzten sich ins Sozialhilfedasein schicken; eine neosozialdemokratische Variante, die Arbeitslose in Altenpfleger, Haushaltshilfen und Einfachstdienstleister verwandelt; schließlich, „die logischste Antwort (…): dass jeder einen Platz im Kontinuum der gesellschaftlich anerkannten Positionen (…) wiederfindet, an den, auf einer echten Arbeit fußend, die Voraussetzungen für ein würdiges Dasein und soziale Rechte anknüpfen“.

Das war vor fünf Jahren. In Castels jetzt erschienenem Büchlein über die „Stärkung des Sozialen“ ist die optimistische, „logische“ Variante gestrichen. Die Erosion sozialversicherter Arbeitsplätze, das Schwinden der Gewerkschaftsmacht, die Schwächung des Steuerstaates sind „in einer Weise irreversibel“, dass die Strukturen des alten Wohlfahrtsstaates „unmöglich in ihrer jetzigen Form beibehalten werden können“. Mit der Wiederkehr der „gefährlichen Klassen“ gerät auch die Demokratie in Gefahr: Verdrängungs- und Abstiegsangst lassen Populismus und Rassismus blühen, je mehr soziale Sicherheit schwindet, desto lauter der Ruf nach „innerer“ Sicherheit.

Zudem wächst die Schicht von Bürgern zweiter Klasse, für die das Recht auf sozialstaatliche Leistungen ohne Ansehen der Person durch personenbezogene Fürsorge ersetzt ist, die gegen den ständigen Nachweis der Willigkeit, für welche Arbeit auch immer, oder gegen staatlichen Arbeitszwang ein Überlebenssalär gewährt. So drängt eine Reservearmee auf den Arbeitsmarkt, ohne Aussicht, jemals zum Einsatz zu kommen, abhängig von der subjektiven Bewertung durch „Fall-Manager“ – eine unangenehme Mixtur aus den ersten drei Varianten von Castels Szenarien.

Die drängendste Aufgabe eines zukunftstauglichen Sozialstaats sei eine umfassende Neuregelung der Versicherungsverhältnisse, die die Mobilitäts- und Flexibilitätszwänge der Produktion und die fragmentierten Arbeitsbiografien einkalkuliert. Castel schwebt eine Art allgemeiner Bürgerversicherung vor, die Renten, Krankenversicherung und Einkommen für beschäftigungslose Perioden, Familien- und Qualifizierungs-Auszeiten garantiert, einen konsistenten Sicherheitsrahmen auch für diskontinuierliche Beschäftigung, verbunden mit einer staatlich organisierten, forcierten Schaffung „echter“, sozialversicherter Arbeitsplätze.

Wie das aussehen könnte, deutet er in seiner Gedankenskizze nur an. Das ist schade, aber einleuchtend: Zu unterschiedlich sind die nationalen Voraussetzungen, zu komplex die Materie. Dreierlei allerdings legt sein Essay nahe: Eine Erneuerung sozialstaatlicher Sicherheiten wird nicht ohne einen globalen ordnungspolitischen Rahmen, der die Interventionsfähigkeit der Staaten wiederherstellt, möglich sein – also durch Reformen von WTO oder IWF. Eine Schaffung „echter“ Arbeitsplätze erforderte eine Reduktion der gesetzlichen Arbeitszeit oder eine Erweiterung des regulären öffentlichen Sektors statt 1-Euro-Jobs. Und schließlich: Nicht aus kollektiven Notlagen wird die politische Kraft kommen, deren eine solche „große Reform“ bedürfte, und auch nicht aus neuem Wachstum, von dem die rechte Sozialdemokratie träumt, sondern allenfalls aus dem Insistieren auf einer Demokratie, die „allen Bürgern die Möglichkeit (gibt), das Lebensnotwendige zu besitzen … ohne von etwas anderem abhängig zu sein als von den Gesetzen“.

So formulierte es St. Just zu Zeiten der Französischen Revolution. Diese schwache Verpflichtung aus der Geschichte, deren „Metamorphosen“ Robert Castel so großartig erzählt hat, ist vielleicht die letzte Hoffnung: die Möglichkeit einer starken Legierung von ganz alten Ideen und – der als Zivilisationsbruch empfundenen Ausschlussdrohung. MATHIAS GREFFRATH

Robert Castel: „Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat“. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. 136 Seiten, Hamburger Edition, Hamburg 2005, 12 Euro