Nazis müssen auf der Stelle treten

Zehntausende verhindern den Marsch von Rechtsradikalen durch Berlin. Die bleiben zwischen Polizei und Absperrgittern am Alexanderplatz eingezwängt

Von rechts:„Ob Regen oder Sonnenschein, wir lassen Deutschland nicht allein“Von links:„Der Untergang war nicht 1945! Der Untergang war 1933“

AUS BERLIN ASTRID GEISLER
UND FELIX LEE

Auf dem Berliner Alexanderplatz gab es gestern nichts zu feiern. Unter dem Motto „60 Jahre Befreiungslüge – Schluss mit dem Schuldkult“ wollten Rechtsradikale den 8. Mai, den Tag des Kriegsendes 1945, begehen. Seit Monaten hatten die Rechtsextremen auf allen Kanälen zum Aufmarsch getrommelt, hatten vom großen Auftritt vor prächtiger Kulisse am Brandenburger Tor und von Weltöffentlichkeit geträumt. Stattdessen standen sie am Fuß des Fernsehturms eingepfercht zwischen Polizeitrupps und Absperrgittern, den Blick auf eine Plattenbauzeile mit Werbetafeln für „Dunkin’ Donuts“ und „Ulla Popken – Junge Mode ab Größe 42“ gerichtet. Ein zugiges Plätzchen, Wind und Regen ließen nicht nur die NPD-Fahnen flattern, sondern auch die Fahnenträger schlottern. Als wäre das nicht traurig genug, entrollten gegen Mittag auch noch sechs junge Leute von einem Balkon direkt über dem Lautsprecherwagen ein handbemaltes Transparent: „Keiner mag euch.“

Insgesamt 15.000 TeilnehmerInnen zählte die Gegendemo zum Naziaufmarsch. Und auch wenn sie die größte war – sie war dennoch nur eine von 30 Veranstaltungen an diesem Sonntagmorgen in Berlins Mitte gegen den Aufmarsch der NPD. Aus allen Himmelsrichtungen machten sich Nazi-Gegner auf den Weg in Richtung Brandenburger Tor oder Alexanderplatz. Die einen, um die Nazis symbolisch zu stoppen, die anderen, um sich den Rechtsextremisten konkret in den Weg zu stellen.

Bei der Blockierer-Demo ganz vorne mit dabei: der 89-jährige Auschwitz-Überlebende Peter Gingold. „Der Untergang war nicht 1945, sondern 1933“, rief er mit brüchiger Stimme durchs Megafon und erinnerte an den 8. Mai vor 60 Jahren, als ganz Europa über das Ende des Zweiten Weltkriegs gejubelt hatte, nur Deutschland nicht. „Die Deutschen fühlten sich besiegt, aber nicht befreit“, bedauerte Gingold. Und leider gebe es heute noch immer einige, die das so sehen. Dabei sei der 8. Mai doch ein Feiertag.

Das sieht Anja S. ein wenig anders. „Einen Feiertag stelle ich mir anders vor“, sagte die 32-Jährige, die extra am frühen Morgen aus Hamburg angereist gekommen war. Früher, ja, da sei sie häufiger gegen Neonazis auf die Straße gegangen. Heute ist sie alleinerziehende Mutter, hat einen Job als Krankenpflegerin – da wolle sie ihre wenige freie Zeit nicht noch auf Demos verbringen. Doch am 8. Mai sei das etwas anderes. Auch sie macht mit, als die Masse brüllt: „Gebt den Nazis die Straße zurück, Stein für Stein.“ Immer wieder kommen die aktuellen Durchsagen vom Lautsprecherwagen, wie viele Nazis sich auf dem Alexanderplatz inzwischen eingefunden hätten.

Um zehn in der Früh waren dort die ersten Kameraden eingetroffen – um kurz vor zwei standen sie immer noch da, hatten aber nicht mal eine donnernde Rede zu hören bekommen. Denn die Kundgebung durfte erst einmal gar nicht beginnen. Die NPD hatte zwar eine Liste des Ordnerdienstes eingereicht, allerdings mit etlichen Namen von Vorbestraften. Die Polizei aber verlangte mindestens 20 nicht vorbestrafte Ordner.

So wurde das Fußvolk zunächst mehrere Stunden mit extremem Liedgut vom Band unterhalten. Statt Kampfesparolen zu verbreiten, gab der prominente Neonaziführer Thomas Wulff vom Lautsprecherwagen aus immer mal wieder die versammlungsrechtlichen Auflagen zum Besten – und seinen aktuellen Bericht zur nationalen Großwetterlage: „Ob Regen oder Sonnenschein, wir lassen Deutschland nicht allein.“ Nebenan gab’s an Tapeziertischen Limo aus Plastikfläschchen und belegte Brötchen mit Blutwurst.

Immerhin die Parteiprominenz schien mit dem Stehempfang unter freiem Himmel zufrieden: Es bot sich schließlich etwas, wonach die NPD-Spitze so kurz vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen dürstet – TV-Kameras und Mikrofone und Reporter mit Notizblöcken auf Schritt und Tritt. Kein Wunder, dass NPD-Chef Udo Voigt, dunkle Krawatte, die Hände staatsmännisch vor dem Bauch gefaltet, ordentlich vorlegte: Wenn der Bundeskanzler in Russland keinen Kranz für deutsche Soldaten ablege, verkündete Voigt, dann „ist er nicht nur ein Kollaborateur, sondern ein Verräter dazu“. Und: „Mir als nationalem Deutschen wäre es natürlich lieb gewesen, wir hätten den Krieg nicht verloren.“ Was dann heute wohl anders und besser wäre? Da wollte sich der Profi-Provokateur lieber nicht so konkret festlegen.

Bis zu 5.000 Teilnehmer hatten die Organisatoren von der NPD und deren Jugendorganisation in den letzten Tagen für die Veranstaltung prophezeit. Die Polizei zählte nur gut halb so viele rechtsextreme Demonstranten, viele davon waren mit Bussen aus der ganzen Republik angereist – und das Gros nicht einmal halb so alt wie die „Befreiungslüge“. Das Bild der nationalen Avantgarde zum 60. Jahrestag des Kriegsendes, es war so, wie man es kennt: Fast nur Männer, viele mit rasierten Schädeln, martialischen Tätowierungen, schwarzen Monturen. Nur die einschlägigen Lieblingsaccessoires mit Hakenkreuz-Verzierungen und SS-Parolen mussten die Kameraden diesmal daheim im Schrank lassen. Schon vorab hatten die rechtsextremen Organisatoren den Kameraden via Internet ins Gewissen geredet: Das Auftreten jedes einzelnen Teilnehmers werde das Bild prägen, deshalb müsse jeder „äußerste Disziplin“ wahren. Und, damit auch alle daran denken: „Das NS-Regime darf nicht verherrlicht werden.“

Obwohl Polizisten sie zu hindern suchten, strömten tausende Menschen auf den Prachtboulevard Unter den Linden zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor – alle mit der festen Absicht, die Neonazis zu blockieren. Der Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele (Grüne) rief mit einem Megafon den Demonstranten zu: „Es gibt viele Gründe, hier zu bleiben – dann bin ich überzeugt, dass die Neonazis hier nicht durchkommen werden.“

Damit sollte er Recht behalten. Am späten Nachmittag stand schließlich fest: Für die Rechtsextremen bleibt es diesmal beim Stehimbiss unterm Fernsehturm. Warum? „Das ist pure Schikane“, schimpfte NPD-Sprecher Klaus Beier. Mit rund 8.000 Beamten müsse die Polizei ihnen doch wohl den Weg zum Bahnhof Friedrichstraße bahnen können. Können vielleicht. Aber wollen? Nicht unbedingt.

Die offizielle Begründung am Nachmittag lautete: Zu viele Gegendemonstranten auf der Strecke, zu hohes Sicherheitsrisiko. Doch Polizeivertreter hatten schon seit dem Vormittag am Rande der NPD-Demo angedeutet: Niemand sei scharf darauf, für den Stadtspaziergang der Rechtsextremen noch den Schlagstock auszupacken oder Wasserwerfer in Gang zu setzen.

Den Rechtsextremen blieb also keine Wahl, als nach einem kalten, verregneten Maisonntag vom Alexanderplatz aus wieder zurück zum kaum 100 Meter entfernten S-Bahnhof zu trotten. Auf der anderen Seite, jenseits des Alexanderplatzes bei den Gegendemonstranten, tat die Polizei unterdessen zur Belohnung sogar übers Megafon die frohe Botschaft kund: „Die NPD-Demonstration Unter den Linden ist abgesagt. Vielen Dank für ihre Mithilfe!“