Leben, schuften, sterben

Ein Spielfilm mit dokumentarischer Anmutung: Im Nordirak, in den Zeltstädten der kurdischen Flüchtlinge hat Bahman Ghobadi „Schildkröten können fliegen“ gedreht. Hier verdienen seine jungen Protagonisten ihr Geld mit dem Aufspüren von Landminen, die sie an Zwischenhändler verscherbeln

Manchmal muss man es einfach verwenden, dieses blöden Wort, das einem alle Lust nimmt, ins Kino zu gehen: Authentizität. Und doch ist Bahman Ghobadis Film „Schildkröten können fliegen“ authentisch – nicht nur weil kurdische Flüchtlingskinder im Norden des Irak ihre eigene Geschichte spielen.

Authentisch sind die trostlosen Zeltplätze, in denen hunderte von Menschen zusammengepfercht einer ungewissen Zukunft entgegen sehen. Authentisch sind die armseligen Lebensbedingungen, die Nahrungsknappheit. Die erschreckend erwachsenen Gesichtszüge der Kinder, die mehrheitlich Waisen sind. Die schweren Verletzungen der Jungen und die Schicksalsergebenheit, mit der sie als Krüppel leben. Authentisch ist die Angst vor weiterer Verfolgung und die vage Hoffnung, dass sich durch die Präsenz der amerikanischen Besatzungsmacht etwas ändern wird. Authentisch ist der unbedingte Überlebenswille der Kinder. Mit dem Aufspüren von Landminen verdienen sie ihr Geld. Tagein, tagaus graben sie die Sprengsätze in der hügeligen Ödnis aus, verscherbeln sie für winzige Summen an Zwischenhändler, die sie wiederum teuer an die UNO verkaufen.

In seinem Regiedebüt „Zeit der trunkenen Pferde“ (2000) arbeitete der iranische Regisseur Bahman Ghobadi mit Kindern, die auch im realen Leben im gebirgigen Niemandsland zwischen Iran und Irak als Schmuggler lebten. Schon damals trugen seine jungen Laiendarsteller die Wirklichkeit gewissermaßen auf den eigenen Schultern in den Film hinein. Auch in seinem neuen Film sind es die der Weite der trostlosen Landschaft abgerungenen Totalen, die ein Gefühl vermitteln für die Welt, in der hier gelebt, geschuftet und gestorben wird.

Zu Beginn schaut die Kamera dabei zu, wie der technisch begabte Junge mit dem Spitznamen Satellit auf einem Wellblechdach eine Antenne aufbaut. Es ist der Versuch, Nachrichtenbilder über den Verlauf des Kriegs zwischen den USA und dem Irak in die Abgeschiedenheit der Region zu holen. Weitere Totalen halten die schreckliche Feldarbeit der Kinder fest. Mit unglaublicher Geschicklichkeit gehen sie auf Suche nach den Tellerminen, schleppen sie in Körben, unter deren Last sie fast zusammenbrechen, zum Verkauf. Ghobadi braucht die Explosionen nicht zu zeigen. Man weiß auch so, dass sie die Ursache der Verstümmelungen sind.

Es ist Bahman Ghobadis große Leistung, die Schicksale seiner Darsteller behutsam und frei von Effekten in seinen Film einzubetten. Vielleicht hätte er sich ganz auf die dokumentarische Qualität verlassen sollen. Sobald er anfängt zu inszenieren, seine Tableaus zu überhöhen, entsteht eine seltsam, auch ein wenig unangenehme Konkurrenz zwischen Fiktion und vorgefundener Wirklichkeit.

Ein Motiv kehrt immer wieder: In der Nebel verhangenen Landschaft steht ein junges Mädchen auf einem Berggipfel. Sie schaut in den Abgrund, als stünde sie kurz vor dem Sprung. Es ist Agrin, die von irakischen Soldaten vergewaltigt wurde. Ihr Trauma hätte eigentlich keiner weiteren Stilisierung bedurft. Auch nicht der viel zu deutlichen Rückblende, in der sie von den Männern gejagt wird.

Mit ihrem zweijährigen Sohn und dem Bruder kommt sie in das Flüchtlingsdorf. Während der Bruder seinen Neffen zärtlich liebt, versucht die junge Mutter den Sohn, die lebendige Erinnerung an die Demütigung, mit brachialen Mitteln los zu werden. Satellit, der Anführer der Waisenkinder, wird sich in sie verlieben und sich ihrer annehmen.

„Schildkröten können fliegen“ zeigt junge Menschen, die tun, was alle jungen Menschen tun. Die Schockwirkung und die Traurigkeit dieses Films liegen nicht nur in dem Schrecken, den er zeigt, sondern in der Kraftanstrengung, mit der die Kinder trotz allem auf einer Normalität in der Hölle beharren.

ANKE LEWEKE

„Schildkröten können fliegen“. Regie: Bahman Ghobadi. Mit Avaz Latif, Soran Ebrahim u. a. Iran/Irak 2004, 98 Min.