filmfilmstadt berlin
: Gute Absahne bei Dreharbeiten

Inzwischen gibt es sogar Fakefilmteams, die sich wichtig machen – obwohl sie gar keinen Film in der Kamera haben

In der Wiener Straße in Kreuzberg standen sich „Bullen“ und „Autonome“ gegenüber, die Straße war mit Polizeifahrzeugen abgeriegelt. Seltsam nur, dass die Polizisten ganz entspannt wirkten, obwohl die jungen Antifas mit Baseballschlägern bewaffnet waren: Das hat es in Kreuzberg bisher noch nicht gegeben, auch nicht, dass die Kontrahenten neun Tage lang „kämpften“ – und zwar immer vor dem Fischrestaurant von Demirel in der Wiener Straße 10: Hier sollte sich eine Gruppe von Neonazis verschanzt haben. Tatsächlich war dieses Gartenlokal einst eine SA-Kneipe, mit einem „wilden KZ“ im Keller, wo sich eine Kegelbahn befand. Von hier aus stürmten die rechten Rollkommandos einst mehrmals das jüdische Kaufhaus gegenüber: Heute befindet sich dort eine Feuerwehrwache.

Die Gefechte vor dem türkischen Restaurant waren inszeniert – für die RTL-Produktion „Abschnitt 40“. Der Regisseur hatte das Lokal in „Spreeklause“ umbenannt, der Wirt bekam für die Dauer der Dreharbeiten ein Ausfallhonorar. Zwar passte alles nicht recht zusammen: die Überbewaffnung der Autonomen, die Anwesenheit von Neonazis ausgerechnet in Kreuzberg und dann noch in einem türkischen Lokal, die Schüchternheit der Polizisten-Statisten –, aber eigentlich war das auch egal, denn fast täglich wird irgendwo in Berlin ein Aspekt aus der jüngsten deutschen bzw. Berliner Vergangenheit von einem Filmteam verbraten: RAF, 2. Juni, Stasi, Love Parade, Christiane F., Russenmafia, Führerbunker, Mauertote, der 8. Mai, der Kreuzberger 1. Mai, der 20. Juli, der 17. Juni, der 9. November – 1918, 1989 … Nicht zu vergessen die akuten filmisch aufbereiteten Juvenilprobleme mit Multikultitouch und deutschen Halbstars, die um Liebe, Sex, Eifersucht, Partydrogen, Schwangerschaft und Autorennen kreisen!

Nicht nur leben immer mehr Ich-AGs davon, dass sie diesen Filmproduktionen in puncto Schminke, Catering, Kabel und Kostümen zuarbeiten, auch an den vielen Locations, die für diese Filme benötigt werden, bleibt immer mehr hängen: Der Tierpark in Friedrichsfelde verlangt zum Beispiel 200 Euro die Stunde fürs Drehen, das leer stehende „Café Moskau“ in der Karl-Marx-Allee nimmt 1.000 Euro pro Tag. Auch die Allianz-Versicherung als Besitzerin des einstigen Stasi-Versorgungstraktes in der Normannenstraße will für jede authentische filmische DDR-Vergangenheitsbewältigung 1.000 Euro täglich.

Die Low-Budget-Filmer müssen sich deswegen etwas einfallen lassen. Der Regisseur Andreas Goldstein von Next-Film wich etwa für eine kleine Stasi-Szene in seinem Film „Detektive“ in den Trauungssaal des Standesamtes von Mitte aus, weil der nur 50 Euro die Stunde kostete. Bei bestimmten Locations wollen aber darüber hinaus auch noch die normalen Nutzer pekuniär ruhig gestellt werden: Im Märkischen Viertel war das eine die Dreharbeiten störende Jugendgang, der der Regisseur nur mit einer Einladung ins nächste McDonald’s beikommen konnte; am Bahnhof Zoo wurden neulich die Fixer von einem Fernsehteam laufend mit Bier und Tabak versorgt, damit sie sich so gaben, wie sie dort immer am U-Bahnausgang rumlungern; und auch die Gäste des Lokals „Stiege“, wo man früher gerne „Liebling Kreuzberg“-Szenen drehte, wurden kürzlich von einem Filmteam gebeten, sich „ganz normal, wie immer“ zu verhalten, also zu reden, zu essen und zu trinken. Dafür spendierte die Regisseurin ihnen Rotwein und Grappa. In Dimitris Kreuzberger Kneipe „Markthalle“, die vor allem durch „Herr Lehmann“ bekannt wurde und seitdem ein Schnitzel gleichen Namens auf der Speisekarte führt, scheinen viele Gäste nur darauf zu warten, dass sie dort mal wieder gefilmt werden – und dabei auch noch zu einer kostenlosen Mahlzeit kommen.

Viele russische Exilanten zieht es als Kleindarsteller nach Babelsberg: Einige der dort ansässigen Filmfilm-Firmen annoncieren seit „Stalingrad“ und „Der Pianist“ ihre Castingtermine dann auch regelmäßig in den hiesigen russischen Zeitungen. Andere verbinden ihr Casting listig mit Top-Events – wie eine „Miss-Ostdeutschland-Wahl“ in einer Rathenower Großdisko.

Bei großen Atelierfesten und sonstigen Feiern passiert es immer öfter, dass plötzlich ein Kamerateam auftaucht – und statt dass die Gäste wie weiland die Kommune 1 oder die Kreuzberger Autonomen es sich verbeten, ohne Bezahlung gefilmt zu werden, zahlen die Filmer anschließend bloß den Gastgeber aus: für seine „gelungene Party-Inszenierung“, die genau genommen nur ihnen galt. Weil viele Partygäste es inzwischen sogar genießen, wenn sie vorübergehend in einen Filmscheinwerfer getaucht werden, gibt es auch bereits Fakefilmteams, die zu solchen Anlässen auftauchen und sich wichtig machen – obwohl sie überhaupt nichts drehen und auch gar keinen Film eingelegt haben.

Wenn das Kino die Couch der Armen ist, wie Roland Barthes meinte, dann wird im Zeitalter des medialen Tittitainment der Kurz- und Kleindarsteller bald den Industrieproletarier ersetzen. HELMUT HÖGE