95,4 Prozent Restrisiko

Mit Obrigheim sind die drei schwächsten Reaktoren abgeschaltet. Bei den übrigen 17 Meilern heißt es jetzt länger warten

von JÜRGEN VOGES

Der Atomausstieg rückt heute erneut ein Stück näher. Zum zweiten Mal geht aufgrund des Atomkonsenses zwischen Bundesregierung und AKW-Betreibern ein Reaktor endgültig vom Netz. Im baden-württembergischen Obrigheim wird das mit knapp 37 Jahren Laufzeit älteste deutsche AKW stillgelegt. Bundesumweltminister Jürgen Trittin lobte gestern das Aus für den Reaktor als „Zeichen für einen Neuanfang“. In Deutschland habe ein neues Energiezeitalter begonnen. Nach dem 2003 abgeschalteten AKW Stade und dem AKW Mühlheim-Kärlich, dessen Inbetriebnahme der Atomkonsens endgültig verhinderte, werde damit schon das dritte AKW stillgelegt.

Trittin betonte zudem, dass allen AKW bis zum Ausstieg noch zugestandene Reststrommenge „heute bereits zu einem Drittel abgearbeitet“ sei. Das Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), das über die Strommengen, die die nun nur noch 17 deutschen Atomreaktoren bis zu ihrer Stilllegung erzeugen dürfen, genau Buch führt, kam bereits vor drei Wochen zu dem gleichen Schluss. Von den 2.623 Milliarden Kilowattstunden, die die deutschen AKW laut Atomkonsens ab Januar 2000 gemeinsam noch produzieren dürfen, sind nach Angaben des BfS rund 870 Milliarden Kilowattstunden bereits erzeugt und in das Stromnetz eingespeist. Mit weiteren AKW-Stilllegungen ist nach der BfS-Statistik allerdings vorerst nicht zu rechnen. Die nächsten Abschaltkandidaten Biblis A und Neckarwestheim 1 brauchen noch mindestens drei respektive vier Jahre, um die ihnen zustehende Reststrommenge (siehe Grafik) noch herzustellen. Und jüngeren Reaktoren wie Isar 2, Emsland oder Neckarwestheim 2 können nach dem Atomkonsens sogar noch 15, 16 oder 18 Jahre kräftig Strom produzieren. Die auch mögliche Übertragung von Reststrommengen etwa von älteren auf jüngere Reaktoren sind dabei noch nicht berücksichtigt.

Viele altgediente AKW-Gegner beurteilen denn auch das Ergebnis von Trittins Ausstiegsbemühungen weiter skeptisch. „Natürlich sind wir froh über jedes Atomkraftwerk, das endgültig abgeschaltet wird“, sagt Francis Althoff, Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg. Trittins Ausstieg dauere insgesamt aber einfach viel zu lange. Der Sprecher der größten deutschen Anti-AKW-Initiative befürchtet, dass nach einem Regierungswechsel „selbst dieser schleichende Ausstieg gekippt wird“. Man könne nicht darauf vertrauen, dass Rot-Grün ewig regiere. Die Bundesregierung hätte „daher beim Ausstieg schneller Fakten schaffen müssen“, so Althoff.

In der Tat haben Angela Merkel und auch Guido Westerwelle oft genug angekündigt, die Laufzeitbegrenzungen für die AKW nach einem Regierungswechsel aufzuheben (siehe Text unten). Und wenn die Reststrommengen ab 2006 keine Rolle mehr spielen sollten, sähe die dann zu ziehende Ausstiegsbilanz von Rot-Grün tatsächlich mager aus. Schließlich sind bislang mit Stade und Obrigheim nur zwei alte und recht kleine Reaktoren vom Netz genommen worden, die zusammen eine Leistung von gerade 980 Megawatt hatten. Bei Regierungsantritt von Rot-Grün im Jahr 1998 waren 19 Reaktoren mit einer Gesamtleistung von gut 21.000 Megawatt in Deutschland in Betrieb. Das Schröder-Kabinett verminderte die Stromerzeugungskapazität deutscher Kernkraft bisher also nur um 4,6 Prozent.

Trittin nannte die Unions-Forderung nach Verlängerung der AKW-Laufzeiten „ein industriepolitisches Armutszeugnis“. Stattdessen werde man in den nächsten 15 Jahren 40.000 Megawatt Kraftwerkskapazität ersetzen. In neue „hocheffiziente fossile Kraftwerke“ werde bereits investiert. Die Union habe offenbar etwas gegen diese Investitionen, kritisiert der Umweltminister. Nebenbei liefert ihm die Opposition auch ein Argument für den kommenden Wahlkampf. Schließlich droht das zarte deutsche Ausstiegspflänzchen einzugehen, wenn Rot-Grün in Berlin nicht alle vier Jahre vom Wähler bestätigt wird.