„Karneval ist Politik durch Performance“

Ethnologen der Humboldt-Universität haben den Karneval der Kulturen erforscht und mit anderen Städtekarnevalen verglichen. Ein Gespräch über Spektakel, die Sehnsucht nach einem anderen Berlinbild, Caipirinha und karibisches Bier

INTERVIEW SABINE AM ORDE

taz: Frau Knecht, Herr Loysal, Sie sind Ethnologen und haben den Karneval der Kulturen und andere europäische Städtekarnevale erforscht. Ihr Kongress an diesem Wochenende steht auch unter der Frage „Es ist Karneval – Party oder Politik?“ Für was steht der Karneval der Kulturen?

Michi Knecht: Für beides. Aber vielleicht muss man ein neues Vokabular erfinden, um die politischen Aspekte des heutigen Karnevals überhaupt erfassen zu können. Das des klassischen Karnevals greift nicht: Den Karneval der Kulturen kann man nicht als Umkehrritual, als Inversion, Groteske oder geordnete Unordnung beschreiben. Wichtig ist, dass solche Mega-Events eine Ressource für politische Aussagen der Städte sind. Diese werden in einer ganz spezifischen Symbolik zur Aufführung gebracht. Mit Identitätspolitik aber hat der Karneval nicht mehr viel zu tun.

Was genau ist das Politische?

Knecht: Die Gründungssituation. Deutschland war damals wiedervereinigt, Berlin wurde Hauptstadt, es gab Ausschreitungen und im Ausland Ängste vor dem deutschen Nationalismus. Da hatte sowohl die liberale, alternative Szene als auch die etablierte Politik ein ganz großes Bedürfnis, ein anderes Berlinbild zu produzieren. Daraus entstand die Idee des Karnevals. Natürlich sollte auch ein anderes Kreuzbergbild entworfen werden: Weg von all den Problemen, vom Ghetto, von der Randale am ersten Mai. Kreuzberg sollte Vorbild sein für ein multikulturelles Friedensszenario, das metaphorisch für die ganze Hauptstadt und ganz Deutschland verlängert wurde. Der Karneval, das ist Politik durch Performance im öffentlichen Raum.

Levent Soysal: Der Karneval ist auch ein staatliches Projekt. Es gab dafür nicht nur den städtischen Willen, sondern auch die städtische Infrastruktur. Die Werkstatt der Kulturen, die den Karneval organisiert, wird vom Land finanziert.

Der Karneval der Kulturen wird häufig als Beispiel dafür benutzt, dass Integration eben doch funktioniert. Ist er dafür ein Beispiel?

Soysal: Der Karneval der Kulturen ist für viele Leute eine Bühne, die sonst keine Bühne haben. Das ist wundervoll. Aber das hat doch mit politischer Integration nichts zu tun.

Knecht: Junge Leute sagen oft ganz vehement, was für ein tolles Erlebnis der Karneval ist. Sie werden angelacht und beklatscht und bekommen gesagt: „Das ist toll, was ihr macht.“ Und sie empfinden das gerade deshalb so stark, weil sie es sonst nicht erleben.

Der Karneval der Kulturen ist das Berliner Multikulti-Event. Man verbindet ihn aber nicht mit den großen Einwanderergruppen: mit den Menschen aus der Türkei, dem arabischen Raum, Südosteuropa. Werden diese Gruppen nicht erreicht?

Soysal: Doch, werden sie. Die Türken sind da. Aber eben nicht als türkische Folkloregruppe. Sie sind untergemischt. Und das ist doch auch gut so.

Knecht: Der Karneval bringt nicht in einer Art von Spiegelung die Zusammensetzung der Bevölkerung auf die Straße. Natürlich nimmt nicht die ganze große, heterogene Gruppe der Türken teil. Junge Türken sind aber ganz viele dabei. Dass sie fehlen, ist vor allem ein Medientopos. Und der arbeitet oft auch noch mit sehr problematischen Zuschreibungen: Die Türken haben etwas gegen Freizügigkeit, sie sind zu religiös …

Soysal: … dabei hatten wir in Istanbul im vergangenen Jahr einen brasilianischen Karneval …

Knecht: … mit viel nacktem Fleisch.

Sommerkarnevale gibt es heute in vielen europäischen Städten. Woher kommt das?

Knecht: Das hat viele Gründe: Zum einen ist natürlich die gesteigerte Mobilität von Menschen, aber auch von Konsumgütern und anderen Waren eine wichtige Voraussetzung. Wichtig ist auch die veränderte Rolle von Kultur als Ressource für die Symbolisierung der Innovationsfähigkeit von Städten. Und dann gibt es noch die europäische Ebene. Die europäische Union muss sich gründen in diesem Slogan „Einheit in der Vielfalt“. Dafür ist eine bestimmte Form von Bürger notwendig: Der tolerante Mensch, der mit Differenz umgehen kann. Das alles findet man auf der Ebene des Karnevals genau wieder. Dort gibt es eine Vielfalt, die in einer gewissen Einförmigkeit produziert wird und so auch konsumierbar ist.

Soysal: Außerdem gehören Mega-Events immer mehr zu den Großstädten. Jede Stadt braucht heute so ein Event, allein um Anreize für Touristen zu schaffen.

Was unterscheidet Berlin von anderen europäischen Sommerkarnevalen?

Soysal: Nicht viel. Das sind – wie andere Großevents in Istanbul oder Paris auch – alles große Spektakel für den Konsum sowohl von Einwohnern als auch von Touristen. Obwohl: In Berlin trinkt man Caipirinha, in Notting Hill …

der Karneval im Londoner Stadtteil Notting Hill war der erste und ist immer noch der größte Sommerkarneval …

Soysal: … genau, und dort trinkt man karibisches Bier.

Knecht: Ganz so sehe ich das nicht. Zum Notting-Hill-Karneval gibt es noch immer ganz viele Unterschiede. Schließlich hat er seine Wurzeln im trinidadischen Karneval. Und der ist ganz klar eingebettet in Befreiung, dem Ende der Sklaverei.

Soysal: Ja, aber seit den 70er-Jahren kann man auch in Notting Hill beobachten, dass es immer mehr um das Spektakel an sich geht.

Knecht: Das stimmt, aber in Notting Hill wird der Karneval noch immer von zehntausend Polizisten und 80 High-Tech-Kameras, die auf Hochhäusern platziert sind, kontrolliert. Der Karneval wird als Gefahr wahrgenommen, auch wenn er keine mehr ist. Die Wurzeln des Karnevals liegen in den rassistischen Ausschreitungen in den 50er-Jahren, er war eine Gegenwehr dazu. In den 60er- und 70er-Jahren hat jede schwarze politische oder musikalische Bewegung sich den Karneval angeeignet. In den 70er-Jahren gab es Ausschreitungen gegen den Rassismus.

Anders als der Karneval der Kulturen ist der Notting-Hill-Karneval also von den Immigranten selbst organisiert worden?

Knecht: Es gibt zumindest eigene Wurzeln. Aber seit Ende der 80er-Jahre gibt es eine viel stärkere Konsensfindung. Seitdem arbeiten Stadt, Tourismus, Marketing, Polizei und Veranstalter zusammen. Inzwischen wird der Karneval auch nicht mehr als schwarzes, sondern als multikulturelles Event vermarktet. Jetzt geht es in eine ganz ähnliche Richtung wie Berlin.

Soyal: Rotterdam ist viel homogener und professioneller organisiert. Den Karneval dort gibt es seit 1984, er war ein Versuch, den karibischen Karneval nach Holland zu bringen. Rotterdam ist die einzige Stadt in den Niederlanden, in denen die Einwanderer in der Mehrheit sind. Beim Karneval sind sie die Darsteller, die Holländer schauen zu. In Berlin ist das viel gemischter.

Den Karneval der Kulturen gibt es an diesem Wochenende zum zehnten Mal in Berlin, wie wird es in weiteren zehn Jahren sein?

Knecht: Das ist schwer zu sagen. Er ist institutionalisiert: Der Hauptstadtkulturfonds gibt das Geld, die Werkstatt der Kulturen sichert die Infrastruktur und den politischen Wille gibt es auch weiterhin. Der Karneval der Kulturen bleibt also, zumindest mittelfristig.