Wo die Wahrheit liegt, wo die Wahrheit lügt

Cannes Cannes (4): Mit seinem grandios verschachtelten und doppelbödigen Film „Where the Truth Lies“ findet Atom Egoyan zu alter Stärke zurück

Am Donnerstagnachmittag im Grande Théâtre Lumière: Der japanische Wettbewerbsbeitrag „Bashing“ beginnt, doch etwas stimmt mit den Untertiteln nicht. Die französischen laufen auf einem Display unterhalb der Leinwand, leuchten aber kaum lesbar auf. Nach ein paar Minuten öffnet sich rechts der schwarze Vorhang, und drei Gestalten hasten, die Köpfe eingezogen, vor die Leinwand, um an deren unterem Rand zu nesteln. Ein seltener Anblick: Echte Menschen konkurrieren mit den fiktiven. Vom Rang aus betrachtet, sehen die drei Techniker aus, als wären sie Spielzeugfiguren, die sich recken, um in den Film aufgenommen zu werden. Aber dafür sind sie viel zu klein.

Am Anfang von Atom Egoyans Wettbewerbsbeitrag fährt die Kamera durch eine Hotelsuite. Neugierig schaut sie nach links, nach rechts, sie tastet das Mobiliar ab; am Rand der Badewanne verharrt sie kurz. Als sie hinüberschaut, wird der Titelschriftzug eingeblendet: „Where the Truth Lies“. In der Wanne liegt die Leiche einer jungen Frau. Das Haar schwebt unter Wasser, die Augen sind aufgerissen, die unbewegte Wasseroberfläche versiegelt den nackten Körper wie eine transparente Grabplatte. Wo die Wahrheit liegt, wo die Wahrheit lügt: So doppelbödig wie der Titel ist auch der Film, der nun beginnt. Viel später und eher beiläufig wird man erfahren, dass die Tote nicht in der Badewanne liegend aufgefunden wurde, sondern in einem weniger lichten, viel garstigeren Sarg. Die Bilder haben gelogen.

Atom Egoyan beherrscht die Kunst, komplexe Spiele mit der Wahrheit, mit der Erinnerung und mit den technischen Methoden der Vergangenheitsbewahrung zu treiben. Seine Filme entwickeln sich auf vielen Ebenen, und nie kann man sichergehen, dass das, was man gerade sieht, sich ereignet hat oder doch nur eine Schicht der Wahrheit ist, hinter der sich andere öffnen werden. Dabei sind seine Filme mehr als kriminalistische Anordnungen, sie erschöpfen sich nicht im Whodunit. Vielmehr geht es um den Verlust, den Tod und die Toten, darum, wie diese in der Erinnerung der Lebenden und manchmal sogar in einem fast materiellen Sinne fortexistieren. Die Asche der Frau, Maureen war ihr Name, wird die Wurzeln eines Baumes nähren, die Nahaufnahme ihres Gesichts wird den Film heimsuchen, und die Erinnerung an sie wird von den Figuren Besitz ergreifen. Wie „The Sweet Hereafter“, für den Egoyan 1997 in Cannes den Großen Preis der Jury erhielt, ist „Where the Truth Lies“ ein verschachtelter, antichronologischer Film. Es gibt zwei Zeitebenen, die späten 50er- und die frühen 70er-Jahre, und zahlreiche Schauplätze: ein Hotel in Miami, eines in New Jersey, eine Villa in Los Angeles, ein Apartment in New York. Dazu drei Hauptfiguren: die beiden Entertainer Lanny Morris (Kevin Bacon) und Vince Collins (Colin Firth) sowie die junge, talentierte Journalistin Karen O’Connor (Alison Lohman). Als Vince und Lanny in den 50er-Jahren gemeinsam auftreten, sind sie ein erfolgreiches Duo, egal ob in der TV-Show „Telethon“, einem dreitägigen Charity-Spektakel, oder in Nachtclubs. Sie leben ein freizügiges Leben, schleppen Frauen ab – neben anderen auch jene Maureen – und nehmen jede Menge Drogen. Doch selbst der ungezügelte sexuelle Appetit ist nur die halbe Wahrheit. Irgendwann wird etwas anderes sichtbar, die Ahnung einer unterdrückten, verbotenen Liebe. Nicht zufällig borgt Egoyan Motive aus „Alice im Wunderland“: Es liegt eine fremde Welt hinter dem Spiegel.

Das ist dicht, reich, virtuos inszeniert. Nachdem er sich in dem 2002 in Cannes gezeigten „Ararat“ mit dem Sujet des Völkermords an den Armeniern schwer getan hatte, hat Egoyan mit „Where The Truth Lies“ zu seiner Stärke zurückgefunden.

CRISTINA NORD