„Ich“ sagen und damit andere meinen

Was es für ästhetische Möglichkeiten gibt, als Überlebender Zeugnis abzulegen: Fred Wanders großer KZ-Roman „Der siebente Brunnen“

VON OLIVER PFOHLMANN

Wie kann man überleben, wenn man, seiner Identität beraubt und mit einer Nummer versehen, nur noch Verbrauchsmaterial ist, Müll, der sich selbst entsorgen soll? „Am Leben“, resümiert Fred Wanders Ich-Erzähler bitter, „blieben die Erfüllten, die das Leben austrinken wollten bis zum letzten Tropfen– und sei es ein Becher Gift.“

Jene Unersättlichen, die vom Leben nicht lassen wollen und dennoch fast alle sterben werden, stehen im Mittelpunkt von Wanders KZ-Roman „Der siebente Brunnen“. 1971 erstmals erschienen, wurde er jetzt vom Wallstein Verlag mit einem Nachwort von Ruth Klüger neu aufgelegt – die Wiederentdeckung dieses Frühjahrs. Seine Figuren sind Juden aus ganz Europa, aus allen sozialen Schichten. Wie de Groot, der kleine Schneider aus Amsterdam, der noch während schlimmster Schindereien von den Nachmittagen in den Cafés an den Grachten träumt. Oder wie Pechmann, das „Wiener Jüngel“ mit der Gabe, mit bloßen Fingern Musik zu machen, ein „Versuch der Natur, den guten Menschen zu backen“. Oder wie der Slowake Lubitsch, der mathematische Formeln löst, Baudelaire rezitiert und trotz allem das Böse leugnet. Er ist Päderast, erfährt man, „aber wen kümmerte das“.

Fast nichts ist diesen Menschen im Lager geblieben, um daraus Kraft zum Weiterleben zu schöpfen: ihre Sprache, ihre Fantasie. Und selbst daran kann man noch zugrunde gehen. Zwei Jahre lang gewinnt der Bauer Meir Bernstein seine Angehörigen zurück, indem er von ihnen erzählt – um sie am Ende wieder erzählend Stück für Stück zu verlieren. Ein ganzes Kapitel widmet Wander der Frage, wie man Brot isst. Manche verschlingen ihre Ration sofort, andere, die „Masochisten“, sammeln es in einem Beutel, in dem es steinhart wird, nähren die Fantasie, nicht den Körper, und sterben früher. Mendel Teichmann, der weise Zaddik, bei dem Wanders Ich-Erzähler in die Lehre geht, schmeckt dagegen in jedem Bissen die ganze Welt, „den Regen, den Sturm. Lass den Geschmack der Sonne auf der Zunge zergehen.“

Auch Spuren von Schönheit gibt es noch im KZ. Zumindest für den, der wie der namenlose Beobachter ohne sie nicht leben kann. Aber „schön“ sind hier meist nur die „Stiefelträger“. Der SS-Mann Wenzel auf seinem Gaul ist „ein schöner Mann“, der junge Kapo Rubinstein, der am liebsten alte Männer peitscht, ist „schön wie ein Cherub“. Und die Natur? Gewiss, auch im Lager gibt es Sonnenauf- und -untergänge. Aber schon der Wald ist verdorben, für den Erzähler unlösbar verbunden mit der Folterung seines Freundes Tadeusz, eine Schlüsselszene des Romans: Endlos lange versucht sich der Beobachter vorzustellen, was den Jungen trotz seiner Qualen am Leben hält, warum er nicht einfach aufgibt und sich erschießen lässt. Seine skandalöse Vermutung: Nie erscheint dem Gemarterten das Leben wertvoller, ja göttlicher als gerade in diesen letzten Augenblicken.

Die auf knapp 150 Seiten assoziativ miteinander verwobenen Episoden und Erinnerungen spielen in den Lagern Hirschberg und Buchenwald, auf Straßen und Gleisen im Thüringer Wald und im Riesengebirge. Rückblenden erinnern an die Zeit in einem französischen Internierungslager. Es sind die Stationen, die der 1917 geborene Fred Wander, der heute in Wien lebt, selbst durchleiden musste, nach seiner vergeblichen Flucht nach Frankreich. Die Befreiung erlebte er 1945 in Buchenwald, mit ihr endet auch der Roman.

Der Erstausgabe im Aufbau-Verlag folgten in der DDR einige respektvolle Rezensionen und für den Autor der Heinrich-Mann-Preis. Im Westen wurde der Roman nur wenig beachtet. In Kindlers Literatur-Lexikon ist er ebenso wenig zu finden wie in aktuellen Arbeiten zur Schoah-Literatur. Dabei fragte Wander früh nach den ästhetischen Möglichkeiten, als Überlebender Zeugnis abzulegen. Sein empathischer Erzähler, seine unheldischen Figuren haben wenig gemein mit Bruno Apitz’ sozialistischem Kitsch. Heute muss man sagen: Wer von den Werken Ruth Klügers oder Imre Kertész’ spricht, muss auch das von Fred Wander nennen.

Wanders Erzähler, wer oder was ist er? Als „Kamera“ bezeichnet ihn das Nachwort, doch ist er viel mehr als ein bloßer Registrator. Selten macht er sich als Person bemerkbar, er kann, wie Christa Wolf schrieb, „ ‚ich‘ sagen, ohne nur sich selbst zu meinen“. Er ist das Medium, das den Mitgefangenen voll Anteilnahme seine Stimme leiht, sie erzählen lässt in ihrem jiddischen Idiom. In seiner dichten, lakonisch-melancholischen Sprache lässt er sie wieder auferstehen, gibt ihnen ihre Individualität, ihre Erinnerungen zurück.

„Über Millionen Tote kann man nichts sagen“, schrieb Wander später in seiner Autobiografie. „Aber über drei oder vier könnte man eine Geschichte erzählen!“ Sein Erzähler ist ein Augenzeuge voller Liebe. Auf den Sadismus der SS-Schergen reagiert er nicht mit Hass, sondern mit Staunen. „Was hatte ihren Geist so getrübt, dass sie lachen konnten?“, heißt es einmal über die „Gestiefelten“. Er lässt sich von den erhabenen Gesichtern der Toten bannen und fühlt sich in Sterbende und Leidende ein. Er ist es, der das Leben auch dann noch feiert, wenn es nichts mehr zu feiern gibt. Der dazu voll Trauer noch das stärkste Gift trinkt.

Fred Wander: „Der siebente Brunnen“. Mit einem Nachwort von Ruth Klüger. Wallstein Verlag, Göttingen 2005, 168 Seiten, 19 Euro