Pro Sünde eine Stunde Fegefeuer

Für Protestanten ist der Fall klar: Himmel oder Hölle. Katholiken sind da unentschiedener

„Unsere Heimat aber ist der Himmel“, erklärt Paulus im Brief an die Philipper und schreibt damit die Jenseitssehnsucht des Christentums fest. Das irdische Leben ist nur eine Durchgangsstation für die frommen Christen. Egal wie arm und krank sie im Diesseits auch sein mögen, nach dem Tod wird alles gut. In den ersten Jahrhunderten nach Christi Tod und Auferstehung waren die Gläubigen überzeugt, das Ende der Zeiten stehe unmittelbar bevor. Bald werde Jesus über die Lebenden und die Toten richten, um dann mit den Auserwählten im Paradies zu leben.

Nachdem sich die Christenheit mehrheitlich von der Naherwartung verabschiedet hatte, sind es vor allem die Endzeitsekten, die genau wissen, wann das Jüngste Gericht beginnen wird. So versammelten sich am 22. Oktober 1844 mehr als 50.000 Anhänger von William Miller auf den Hügeln von Massachusetts und erwarteten das Ende der Welt. Die Zeugen Jehovas wiederum sind der Meinung, das Ende der Zeiten und die große Schlacht zur Bezwingung des Bösen habe schon längst begonnen – und zwar im Jahr 1914. Auch das Millennium bot Anlass für mancherlei Mutmaßungen: Sind nicht auch Ereignisse wie der Tsunami oder der Tod des Papstes Zeichen für das Ende dieser Welt und das Kommen des Paradieses? Aber was erwartet die Gläubigen dort eigentlich? Und will man da überhaupt hin?

Heutige Theologen tun sich schwer mit konkreten Darstellungen eines Paradieses. Sie bevorzugen das Abstrakte: Unsterblichkeit sei nur der Fortbestand unseres Lebens im Gedächtnis Gottes. Dabei kleben im jahrtausendealten Fotoalbum des Christentums doch zahlreiche Schnappschüsse von jenem Paradies, in dem Wolf und Lamm Hand in Hand über grüne Wiesen wandeln. Durch die Jahrhunderte hindurch wurde das Paradies immer wieder mit ganz konkreten Vorstellungen verbunden: Die amerikanische Autorin Elizabeth Stuart Phelps beschrieb in ihrem Roman „Beyond the gates“ das Paradies als eine Kleinbürgeridylle mit Vorgarten, Ehebett und Volkshochschulen.

Wie auch immer es aussieht: Der Weg dorthin ist beschwerlich. Besonders für die Katholiken. Gleich nach dem Tod legen sie eine Zwischenstation im Fegefeuer ein – hier werden sie für kleinere Vergehen, die nicht schon zu Lebzeiten auf Erden gebüßt wurden, bestraft. Die Verweildauer im Fegefeuer wird unterschiedlich berechnet. So gibt der spanische Mönch Juan Maldonado pauschal zehn bis zwanzig Jahre Fegefeuer an, andere klerikale Zeitangaben sind jedoch differenzierter: Wenn ein Mensch durchschnittlich zehn Sünden pro Tag begeht, dann ergibt dies 60.000 Sünden in 20 Jahren. Vorausgesetzt, schon zu Lebzeiten wird die Hälfte durch Büßen erledigt, bleibt man bei einer ungefähren Verweildauer von einer Stunde pro Sünde ungefähr drei Jahre im Fegefeuer.

Protestanten nehmen – Luther sei Dank – den direkten Weg in Richtung Himmel oder Hölle. Aber wie eigentlich? Durch eine Seele? Und was geschieht mit dem Körper? Der Kirchengelehrte Tertulian war der Meinung, dass der gesamte Körper wieder auferstehe, schließlich bräuchte man noch alle Glieder für das Jüngste Gericht.

Der gesamte Körper? Haare und Nägel zum Beispiel sind eigentlich überflüssig, dennoch erhält man sie in einer „angemessenen“ Länge und Fülle zurück. Denn nach Lukas heißt es „Kein Haar von euren Köpfen wird verloren gehen.“ Augustinus geht davon aus, dass alle, auch die in die entferntesten Atome zerlegten Körperteile, wieder zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Im Himmel werden auch verschiedene körperliche Mängel wieder ausgeglichen, Verstümmelte erhalten alle ihre Glieder zurück, Geistesschwache werden klug, Dicke schlank und Magere ebenfalls auf ein annehmbares Gewicht gebracht. Alle haben diesselbe „angemessene“ Größe und ein ähnliches Alter: um die 30, genauso alt wie Jesus, als er auf Erden wirkte.

Für Thomas von Aquin ist der irdische Körper zu prosaisch, als dass er ganz natürlich ins Paradies kommen könnte. Ein besonderes Problem stellen für ihn die Körpersäfte dar, denn Urin, Schweiß, Eiter und Ähnliches darf es im Paradies nicht geben. Dennoch dürfen die Gedärme nicht leer sein, da die Natur einen „horror vacui“ habe, eine Angst vor allem Leeren – daher werden die Gedärme nur noch mit edlen, wohl riechenden Säften gefüllt sein. Das neue Jerusalem in der Offenbarung des Johannes ist 2.000 Quadratkilometer groß: „Ihre Mauer ist aus Jaspis gebaut, und die Stadt ist aus reinem Gold, wie aus reinem Glas.“ In dieser Welt braucht es keine Sonne, keinen Mond, da die Herrlichkeit Gottes alles erhellt. Andere sehen den Himmel in einer würfelförmigen Form aus 1.500 übereinander liegenden Ebenen, 28 Milliarden Auserwählte wohnen hier, jeder hat 64 Hektar Land zu seiner Verfügung.

In volkstümlichen Vorstellungen erscheint das Paradies als ein Garten voller Wohlgerüche, versehen mit einer angenehmen Temperatur, durchzogen von klaren Bächen und durchdrungen von feinen Melodien. Ernährt werden die Auserwählten durch einen Lichtstrahl, den Gott ihnen schickt.

Thomas von Aquin beschreibt das Paradies als etwas Statisches, Unbewegliches. In diesem Paradies gibt es keine Pflanzen, keine Tiere, keine Nahrung und keine Kleider. Die Zeit vergeht anders als auf Erden, meistens verbringt man sie damit, Gott zu preisen, Gott zu dienen und Gott zu schauen. Die Gottesschau, die „visio beatifica“, macht selig und allwissend. Ansonsten kann man Harfe spielen, singen, tanzen und mit Moses und David sprechen. Der Jesuit Jeremias Drexel spricht von „Sturzfluten der Wonnen“, jedes Gefühl sei wie auf Erden, aber nur intensiver. Jeder Strafe in der Hölle entspricht eine Wonne im Paradies, und darüber hinaus genießen die Himmlischen das Privileg, den in der Hölle Schmorenden bei ihren Qualen zusehen zu dürfen.

Während heutige Theologen den Himmel eher als Zustand begreifen, suchte man in früheren Zeiten den geografischen Ort. Auf mittelalterlichen Weltkarten ist er konkret eingezeichnet, irgendwo weit im Osten, in Indien oder im heutigen Irak gelegen, zwischen Euphrat und Tigris. Da der Irak auch in damaliger Zeit keine sonderlich friedliche Gegend war, legte man die Genesis so aus, dass das Paradies an den unterirdischen – und unbekannten – Quellen von Euphrat und Tigris verborgen sei.

Für andere Gläubige war das Paradies ein auf einem Berg gelegener Garten, umgeben von einer Steinmauer und bewacht von einem Engel mit einem flammenden Schwert. Die Mormonen wissen, dass das neue Jerusalem im US-Bundesstaat Missouri, genauer gesagt in Jackson County, errichtet werden wird. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wähnte Reverend Thomas Hamilton das Paradies in den Weiten des Alls, 500 Lichtjahre entfernt auf dem Stern Alykon. Das Paradies ist eben anderswo. DANIEL STENDER