Die Wahrheit über Hitlers Bömbchen

Das umstrittene Buch „Hitlers Bombe“ wartet mit einer Fülle neuer Quellen auf. Zur Geschichte der ach so harmlosen Physik in Nazideutschland muss auf jeden Fall ein neues Kapitel hinzugefügt werden

Es war ein Spektakel, als Rainer Karlsch kürzlich sein neues Buch präsentierte. Über 100 Journalisten und ein knappes Dutzend Fernsehteams hatten sich aufgemacht, um ausgerechnet über ein wissenschaftshistorisches Werk zu berichten. Schon im Vorfeld meldeten bedeutende deutsche Medien Zweifel am Inhalt an. Schließlich hatte die Deutsche Verlagsanstalt (DVA) mit dem Titel „Hitlers Bombe“ recht dick aufgetragen. Alle dachten, es geht um Atombomben, wie sie die USA über Hiroschima oder Nagasaki abgeworfen haben.

Der Historiker Karlsch ist seitdem bemüht, genau das zu dementieren. Im ganzen Buch stellt er immer wieder klar, dass für die klassische Atombombe in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs einfach die Mittel fehlten. Die notwendigen mehreren Kilogramm hochreinen Plutoniums oder Urans etwa hätten jahrelange Arbeit erfordert sowie Fabriken, wie sie die über 100.000 Forscher und Ingenieure des US-amerikanischen Manhattan-Projekts zur Verfügung hatten.

Aber – und das belegt Karlsch mit teilweise neuen, oft bekannten, aber nie zuvor ausgewerteten Quellen: Mehrere Arbeitsgruppen deutscher Physiker arbeiteten bis wenige Tage vor der Kapitulation des Dritten Reiches an einer Atomwaffe mit enormer Sprengkraft. Und am Einbau dieser Atomgranaten in weit reichende Raketen. Das widerspricht der bisherigen offiziellen Lesart der deutschen Nachkriegsphysiker. Bislang war in Sachen Nazi-Atomforschung nur von einer kleinen Arbeitsgruppe um den Nobelpreisträger Werner Heisenberg die Rede gewesen. Die deutschen Physiker, so hieß es, sahen die technischen und ethischen Probleme des Atombombenbaus ein und versuchten lediglich, einen – im Endeffekt kaum funktionierenden – Atomreaktor für die Stromerzeugung zu bauen.

Dieses Kapitel der deutschen Wissenschaftsgeschichte muss nach den jahrelangen Recherchen Karlschs deutlich aktualisiert werden. Nur ein paar Details: Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hat schon im Jahr 1941 ein Reichspatent erhalten, das korrekt das Prinzip der späteren US-amerikanischen Plutoniumbombe beschreibt. Es gab mehrere Gruppen, die unter Anleitung des Heereswaffenamtes an Atombomben und -reaktoren geforscht haben. Heisenberg war darunter quasi der Erfolgloseste.

Die Marine und andere forschten an der nötigen Sprengtechnik für sogenannte atomare Hohlladungen. Gegen Ende des Krieges schaltete sich zunehmend die SS ein, auf der verzweifelten Suche nach weiteren Wunderwaffen. Und es gab im März 1945 vermutlich eine Kernexplosion auf einem Truppenübungsplatz beim thüringischen Ohrdruf – keine Atombombe, sondern eine nukleare Hohlladungsgranate mit hoher Sprengkraft. Dabei nutzten die Naziphysiker die Fusion leichter Elemente zur Energiegewinnung – so wie es später, in viel größerem Ausmaß, die Atommächte bei den Wasserstoffbomben taten.

Karlsch hat dabei unter anderem zuvor nicht zugängliche Nachlässe ehemaliger Rüstungsforscher genutzt sowie russische Dokumente und Berichte des sowjetischen Atomministeriums. Als sehr wertvoll erwies sich dabei die Hinterlassenschaft zweier Männer: von Professor Erich Schumann, dem Leiter der Forschungsabteilung des Heereswaffenamtes (HWA). Und von Walther Trinks, dem Referatsleiter für Sprengphysik beim HWA. Die Familien der beiden Physiker hatten bisher die Nachlässe nicht für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In Moskau konnten sich Karlsch und der TV-Journalist Heiko Petermann Kopien von Dokumenten aus dem Atomministerium sichern – darunter auch Spionagemeldungen an Stalin über den Kernwaffenversuch in Thüringen vom März 1945.

Mark Walker, US-Historiker und Autor des Buches „Die Uranmaschine“, meint, Karlsch habe „ein neues Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte gefunden“. Manche Gruppen von Physikern hätten offensichtlich überhaupt keine Bedenken gehabt, bis zum Schluss zielstrebig an neuen Waffen zu forschen. Und dass die physikalische Gemeinschaft oder die Max-Planck-Gesellschaft nach dem Krieg so wenig Elan beim Aufarbeiten der Nazi-Vergangenheit hatten, erscheint so in einem neuen Licht. So war ein berühmter Wissenschaftler wie Walther Gerlach während des Krieges Leiter der physikalischen Kernwaffenforschung und in der Bundesrepublik dann Professor in München und sogar Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Zu den physikalischen Kenntnissen der Nazis meint Professor Friedwardt Winterberg, heute in den USA und in den 50er-Jahren am norddeutschen Atomforschungszentrum Geesthacht Mitarbeiter des führenden NS-Reaktor-und-Kernwaffenforschers Kurt Diebner: „Es handelte sich anscheinend um hybride Fission-Fusion-Bomben“, auch Booster-Bomben genannt. Hier wird mit Hilfe von Fusionsreaktionen bei Lithiumdeuterid die Spaltung von schweren Elementen wie Uran oder Plutonium enorm beschleunigt. „Im Prinzip können Sie die kritische Masse an Spaltstoff bis auf 100 Gramm herabsetzen“, so Winterberg. Und solche Mengen standen 1945 durchaus zur Verfügung.

Karlsch beschreibt in seinem klar gegliederten Buch die Ergebnisse der jahrelangen Recherchen. Er gibt seine Quellen umfangreich an, diverse Schwarzweiß-Fotos aus der Zeit zeigen die wichtigsten Protagonisten und einige Versuchsaufbauten. Was will man mehr? Dass demnächst noch die wissenschaftlichen Messungen ermöglicht werden, die näheren Aufschluss über die Kernwaffenversuche der Nazis geben. Und dass weitere Nachlässe für die Forschung geöffnet werden.

REINER METZGER

Rainer Karlsch: „Hitlers Bombe“. DVA, München 2005, 432 Seiten, 24,90 Euro