Praktizierte Freiheit

Missverstanden als Gegenteil von Individualismus erscheint sie schwach, tapfer zwar, aber verzweifelt. Ein Loblied der Solidarität

VON HANS-JÜRGEN ARLT

Individualismus, landläufig verstanden als der Vorrang des Einzelnen und seiner Bedürfnisse vor der Gemeinschaft und deren Interessen, gilt als das Merkmal der Moderne. Es hat sich eingebürgert, Solidarität als Gegenbegriff zu verwenden. Der Verlierer steht fest, noch bevor ernsthaft begonnen wurde nachzudenken.

Sich diese Brille aufzusetzen bedeutet, das Einzelinteresse allgegenwärtig, groß, prächtig gedeihen zu sehen, hingegen klein, schwach, tapfer durchaus, aber ein bisschen verzweifelt die Solidarität. In einem Meer von Egoismus werden Inseln des Altruismus angepeilt, zur Besichtigung angeboten, aufgesucht zur Beruhigung, dass noch nicht alles verloren ist, dass die Hoffnung und mit ihr die Solidarität zuletzt stirbt. ‚Hoch die …‘, das war einmal, tut uns leid, aber Zeitgeschichte muss mit Hinweis auf Individualisierungsprozesse als Verfallsgeschichte der Solidarität geschrieben werden.

Am Anfang der Arbeiterbewegung, die doch die Solidarität erst groß und wirksam gemacht hat, stand ein revolutionärer Akt der Individualisierung. Bauern und Handwerker wurden aus erzwungenen Bindungen herausgelöst. Vorher waren sie an Herrschaften gefesselt, an die Feudalherren und die Zunftherren. Jetzt fanden sie sich als „Befreite“ wieder. Auf den Waren-, Geld- und Arbeitsmärkten wurde es – lange Zeit nicht tatsächlich, aber formalrechtlich durchaus – zu ihrer eigenen Entscheidung, ob und zu welchen Konditionen sie Bindungen eingingen, Verträge abschlossen. Wirtschaftlich vom lebenslänglich Abhängigen zum Tauschpartner, politisch vom Untertan zum Staatsbürger, das ist der Entwicklungspfad des individualisierten Menschen.

Solidarität setzt voraus, dass die Einzelnen darüber entscheiden können, welche sozialen Bindungen sie eingehen und welche nicht. Solidarität ist praktizierte Freiheit. Unfreiwillige Solidarität ist keine.

Die solidarische Beziehung war von Anfang an mit der Möglichkeit konfrontiert, dass Menschen sich gegen solidarisches Verhalten entscheiden – einer Möglichkeit, die die Arbeiterbewegung widerstrebend bis gar nicht anerkennen wollte. Deshalb hat sie ihren Solidaritätsbegriff sozialromantisch verklärt, mit Morgenröte ideologisch aufgeladen und als konfrontativen Gegenbegriff zu den Konkurrenzbeziehungen des Marktes etabliert. Sie hat ihm das Element von Freiheit und Selbstbestimmung entzogen.

Das rächt sich heute. Individuen sind keine außergesellschaftlichen Wesen. Individualität ist gerade der moderne gesellschaftliche Zustand des Menschen. Deshalb haben auch moderne Menschen eine gesellschaftliche Verantwortung, an die sie erinnert werden dürfen. Der soziale Ort, an dem sich diese Verantwortung entfalten kann, hat einen prominenten Namen: Zivilgesellschaft. Sie ist angesiedelt in dem Dreieck, das gebildet wird von den familiär-privaten Verpflichtungen auf der einen, den staatlichen Geboten und Verboten auf der zweiten und den marktförmigen Beziehungen auf der dritten Seite. Dieser Spielraum zwischen Familie, Staat und Markt wurde und wird als Boulevard der Freiheit bejubelt, oder er wird als Labyrinth aus Willkür und Unsicherheit beklagt. Nie kann man sicher sein, ob die Sonnenseite der Zivilgesellschaft leuchtet, also Toleranz, Respekt, bürgerschaftliches Engagement, Wohltätigkeit und Solidarität Platz greifen. Oder ob die dunklen Seiten überhand nehmen und Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Untertanengeist, Vergnügungssucht und bornierte Interessen vorherrschen.

Vieles muss zusammenkommen, um Solidarität lebendig werden zu lassen. Der Solidarität geht es um das individuelle Interesse, aber um eines, das seinen gesellschaftlichen Zusammenhang mitdenkt und sich aus freien Stücken entschließt, einen möglichen eigenen Vorteil nicht zu realisieren; und zwar deshalb nicht, weil sonst ein sofortiger Nachteil für andere und längerfristig auch eigene Nachteile drohen. Die Bedrohung, gegen die die Solidarität sich richtet, hat meist einen Namen, der Bezug auf einen Gegner ist die Regel. Dabei organisieren solidarische Akteure Unterstützung in der doppelten Intention, zu helfen und den Zustand zu verändern, der hilfsbedürftig macht. Gepaart mit der Erwartung an andere, ebenso zu handeln, machen diese Kennzeichen die durchaus anspruchsvolle Qualität der sozialen Haltung Solidarität aus.

Sieben Momente charakterisieren den Begriff „Solidarität“ – das „Für sich“, das „Für andere“ und die Erwartung eines reziproken Verhaltens der anderen, das Freiwillige, das Verbindende, das Konträre und das Verändernde.

Ein solches Verständnis von Solidarität macht es nicht erforderlich, Individualismus im Widerspruch dazu zu sehen. Der Doppelschritt, Solidarität als Gegenbegriff zu Individualismus zu etablieren und diesen dann auch noch mit Egoismus gleichzustellen, setzt sich aus zwei Fehlern zusammen. Vor allem bedient er einen verantwortungslosen Freiheitsbegriff, der Soziales nur mit Zwang und Gerechtigkeit nur mit Neid in Verbindung zu bringen vermag. Auf diese Weise wird einer Einstellung Vorschub geleistet, die Egoismus als Normalität anerkennt und Solidarität diskriminiert. Alles Verhalten, das nicht ungebrochen dem nackten Eigeninteresse folgt, wird zum abweichenden Verhalten. Hochstilisiert zur außergewöhnlichen Leistung, die von niemandem so ohne weiteres erwartet werden kann, bekommt Solidarität den Status der Zumutung. Egozentriker oder, wie es eine Shell-Jugendstudie ausdrückte, Egotaktiker zu sein gilt dann als natürlicher Zustand moderner Menschen.

Historisch spricht es für das Gewicht der Arbeiterbewegung und gegen die These, die große linke Erzählung über die Solidarität sei nur ein Märchen, dass die für Lohn Arbeitenden den Freiraum besetzen konnten, den die bürgerliche Gesellschaft geöffnet hat; sich in ihr gegen sie organisieren konnten. Von jeglichem politischen Einfluss ausgeschlossen, mit Geld nicht gesegnet und von der herrschenden Meinung missachtet, hatte die Arbeiterbewegung nur eine, ihre Waffe: die Solidarität. Das ständige Gefühl, zu wenig davon zu haben, lässt sich von daher leicht verstehen.

Um diese Waffe zu schmieden, haben die Führer der Arbeiterbewegung das Verbindende glorifiziert und das „Für andere“ moralisiert. Sie haben den Gegner dämonisiert und die Dimension der Veränderungradikalisiert. Zugleich haben sie den Vorwurf unsolidarischen Verhaltens als Allzweckwaffe in inneren Machtkämpfen eingesetzt.

Zu den Folgen der Modernisierungsdynamik gehört, dass nur noch in Rudimenten auffindbar ist, was die Basis der Arbeitersolidarität bildete. Die materiellen, sozialen, kulturellen Gemeinsamkeiten eines Arbeiterdaseins im geschlossenen Milieu von Fabrik, Familie, Kneipe und Verein sind vielfach geschildert worden. Die daraus erwachsene Solidarität kann in das 21. Jahrhundert nicht hinübergerettet werden. Hier dürfte das politisch Gefährliche altlinker Solidaritätsappelle liegen: dass sie Vergangenheit beschwören, dass sie darauf bestehen und sich damit dann auch beruhigen, es habe sich im Grunde nichts verändert, nur die Welt sei schlechter und der Mensch egoistischer geworden. Diese rituelle Funktion des Solidaritätsbegriffs ist im Real-nicht-mehr-Existierenden besonders penetrant hervorgetreten. „Zur Inszenierung des Sozialismus gehörte das Wort ‚Solidarität‘ wie ein Kissen zum Sofa“ (Gerhard Schulze).

Eine einheitlich ansprechbare Klassen- und Motivlage, die beinahe militärische Fabrikorganisation, die zusammenschweißte, und dieses unmittelbar erlebte Aufeinander-angewiesen- und Füreinander-da-Sein, wie es gewerkschaftliche Unterstützungskassen praktizierten, sind Geschichte. Die anschließende Institutionalisierung der Solidarität in der Form des Sozialstaates war historisch ein hart erstrittener Fortschritt – nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen.

„Mein Gedanke war“, hat Bismarck erklärt, „die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen, zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen …“ Wir sehen, sehr schnell schon wurde die Solidarität beiden zu gefährlich, den Herren wie den Genossen. Sie haben, nicht ohne Widerstände auf beiden Seiten, die zivilgesellschaftliche soziale Beziehung Solidarität teilverstaatlicht, um sie „sicherer“ zu machen; um sich vor ihren potenziellen revolutionären Auswüchsen zu schützen, dachten die Herren; um sie zuverlässiger und stabiler zu machen, dachten die Genossen. Ein zwiespältiger Effekt dieser institutionalisierten Hilfe liegt darin, dass solidarische Momente wie das Freiwillige und das „Für andere“ in den Hintergrund und die Ansprüche auf Unterstützung in den Vordergrund treten. Zwiespältig deshalb, weil ein Recht auf Solidarität die soziale Sicherheit markant verbessert, andererseits aber ein Anspruchsklima entsteht, dessen Auswüchse dann der Boulevardjournalismus mit der Scharfzüngigkeit des Wiederkäuers skandalisiert.

Die Gnade ihrer späteren Geburt hat es den neuen sozialen Bewegungen erlaubt, nicht nur ihre Organisationsformen, ihre programmatischen Positionen, ihre Aktions- und Artikulationspraxis, sondern auch ihr Solidaritätsverständnis von vornherein an den veränderten Lebensverhältnissen auszurichten. Die Orientierungspunkte des Denkens und Handelns haben sich nicht verflüchtigt, aber verflüssigt. Die gusseisernen Schienen, die zuverlässig zu bestimmten Lebenszielen hinführen, liegen verrostet und zugewuchert in der Landschaft. Alle haben selbst Navigationsarbeit zu leisten, sich Orientierungswissen anzueignen, eigene Ziele zu definieren. Gewissheiten und Gewohnheiten taugen nicht mehr als ruhende Pole, ihre Revision und ihr Relaunch werden zur Daueraufgabe. Nicht der Verlust von Normen, Werten, Bedeutungen, Sinn ist zu beklagen, sondern der Umgang mit ihrer laufenden Veränderung und ihrer Vervielfältigung ist zu lernen. Weshalb sollte es der Solidarität anders ergehen? Gebraucht wird Respekt vor der Andersartigkeit, nicht Rechthaberei, die, mit den Etiketten „besser“ und „schlechter“ hantierend, alte und neue Solidaritäten gegeneinander ausspielt.

Der inflationär-beschwörende Gebrauch des Begriffs Solidarität begegnet uns bei den neuen sozialen Bewegungen seltener, weil für sie das Vorübergehende, das Projektartige des Engagements von offensichtlicher Selbstverständlichkeit ist. Dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll, diese Botschaft läuft bei Solidaritätsaktionen weiterhin mit. Aber sie ist nicht mehr eingebunden in paradiesische Heilsversprechen mit Endziel- und Endzeitvorstellungen. Der Veränderungsanspruch hat sein revolutionär-utopisches Potenzial weitgehend verloren. Ein umfassender ideologischer Deutungsrahmen, wie er die Arbeiterbewegung überwölbt, Motivation und Mobilisierung dauerhaft befördert hat, steht nicht mehr zur Verfügung. Deshalb greift der alte Appell an die Loyalität des Lagers nicht mehr richtig; man kommt mit moralischem Druck nicht besonders weit.

Der Kampagnencharakter vieler Solidaritätsaktionen sticht ins Auge. Das Verbindende wurzelt nur noch flach in Alltags- und Arbeitszusammenhängen. Solidarität beruht stärker auf Verständigung, ist also mehr Produkt kommunikativen Handelns, weniger das konkreter gemeinsamer Erfahrungen. Seltener wird das eigene Erleben zum auslösenden Moment solidarischen Handelns, häufiger die medial vermittelte Information. Die Rolle der Massenmedien, inzwischen auch des Internets als informierende und motivierende Quelle ist viel bedeutsamer als früher. Die kommunikativ geknüpfte Menschenkette löst sich nach der Solidaritätsaktion wieder auf, um sich anderswo mit anderen Menschen neu zu bilden.

Akteure, Themen und Aktionen kennen dabei keine nationalen Grenzen mehr. Solidarität ist global geworden, weil die Risiken und die Informationen darüber inzwischen weltöffentlich sind und das Internet zu weltweiten Dialogen einlädt. Im Vergleich zum Weltmarkt ist die Weltpolitik noch unterentwickelt. Die oft zu schwachen Institutionen der internationalen Politik rufen Aktivitäten der vielen Nichtregierungsorganisationen geradezu auf den Plan. Das „Für andere“ umspannt die Welt, weil immer mehr Menschen wissen, zumindest spüren, dass es sie betrifft, was im Weltdorf passiert.

Inszeniert, nur medial erzeugt, zum symbolischen Spektakel degradiert – aus der Perspektive eines überkommenen Solidaritätsbildes werden an die neuen Formen viele kritische Fragen gestellt. Dieses negative Urteil hat eine Parallele in der Art und Weise, wie sich altvordere Politaktivisten über „die unpolitische Jugend“ mokieren. Angesichts der Friedensbewegung, angesichts von Ökologie- und Frauenbewegung, von antirassistischen, Dritte- Welt- und globalisierungskritischen Aktivitäten der Solidarität Schwindsucht zu diagnostizieren, zeugt von schwachen Sinnen.

Niemand hindert die Freunde der Solidarität daran, deren moderne Gesichter zu entdecken – es sei denn, sie versperren sich selbst die Sicht auf die neue Vielfalt der Solidarität.

HANS-JÜRGEN ARLT lebt als Publizist und Kommunikationswissenschaftler in Berlin