Gesichtsverlust ist ausgeschlosse n

AUS TOKIO MARCO KAUFFMANN

Herrn Okuyamas Einladung sind viele gefolgt: Der düstere Saal im Tokioter Stadtteil Akabane füllt sich an diesem sonnigen Sonntagnachmittag. Alle hier Anwesenden haben ein Hikikomori-Kind zu Hause. Söhne und Töchter, die sich weigern – unter Leute zu gehen, in die Schule oder ins Büro.

Die Hikikomori – übersetzt heißt das so viel wie „sich einschließen“ – leben teilweise jahrzehntelang ein Eremitendasein: ein soziales Phänomen, das Psychologen bisweilen als typisch japanisch bezeichnen. Ein Auflehnen gegen die starren Normen einer streng durchorganisierten Gesellschaft.

Herr Okuyama, selbst Vater eines Hikikomori-Sohnes, hat die Selbsthilfegruppe für betroffene Eltern gegründet. Für die heutige Veranstaltung hat er einen der wenigen Spezialisten eingeladen: den Psychiater Tamaki Saito, einen jugendlich wirkenden Mann in kariertem Hemd und Camper-Schuhen.

Schulverweigerer, depressive oder gewalttätige Jugendliche, sagt Saito einleitend, gebe es natürlich überall auf der Welt. Allerdings: „In westlichen Gesellschaften landen solche Kinder tendenziell auf der Straße“, in Japan passiere genau das Gegenteil: statt Straßenkindern gebe es „Hauskinder“, Hikikomori eben. „Dass Eltern ihre Kinder aus dem Haus werfen, ist in Japan nahezu unmöglich“, sagt Saito. Im konfuzianisch geprägten Wertesystem Japans stünden Familienbande über allem.

Am Anfang steht die Weigerung

Seinen inzwischen 40-jährigen Sohn auf die Straße zu setzen, daran hat Herr Satou in all den Jahren nie gedacht: Obwohl sein Sohn Weingläser zerschmettert, wenn er wütend ist, und hin und wieder mit Messern herumfuchtelt. Suguru Satou, der nahezu sein ganzes Berufsleben beim Autobauer Toyota verbracht hat, ist 70 Jahre alt. Die Probleme begannen vor 26 Jahren. Die Schulleistungen seines Sohnes ließen nach, er vermochte seinem Lehrer nicht mehr in die Augen zu schauen. Der deutete dies als mangelnde Aufmerksamkeit und schleuderte dem 14-Jährigen eines Tages ein Kreidestück entgegen. Danach weigerte sich der Junge, in die Schule zu gehen. „Zu dieser Zeit wusste ich überhaupt noch nicht, was los war“, sagt Herr Satou. „Wir gingen zu einem Augenarzt. Der sagte: ,Ihr Kind hat nichts an den Augen‘ und schickte uns zu einem Psychologen.“ Der Beginn einer Odyssee durch Kliniken und Therapieeinrichtungen.

Medizinisch ist das Phänomen Hikikomori schwer zu fassen und wenig erforscht. Symptome sind Depressionen, zwanghafte Handlungen oder Phobien. Vor vier Jahren brachte die japanische Regierung eine erste Hikikomori-Studie heraus: Damals wurden in öffentlichen Gesundheitszentren 6.100 Jugendliche mit Hikikomori-Symptomen untersucht. Knapp jeder Zehnte führte schon länger als zehn Jahre ein Hikikomori-Leben, 40 Prozent der Untersuchten waren zwischen 16 und 25 Jahren alt. Dürfte bereits damals die Dunkelziffer beträchtlich gewesen sein, schätzen Experten die Zahl der Betroffenen heute auf bis zu eine Million.

Herr und Frau Satou drängten ihren Sohn nach dem Vorfall mit der Kreide, wieder in die Schule zu gehen. Das war vor 20 Jahren. Heute sagt Herr Satou, der sein Kind nie beim Namen nennt: „Mein Hiki-Boy konnte einfach nicht mehr in einem Schulzimmer sitzen – es ging nicht.“ Herr Satou bringt das Gespräch auf die generelle Ebene: „Für Hiki-Kinder sind die Ansprüche unserer Gesellschaft zu hoch.“ Sie hätten schlicht Angst, nicht zu genügen. Zu versagen, vor den Augen anderer. Ein Schamgefühl, das in Japans Gesellschaft stark ausgeprägt sei. „Die Erwartungen an die Kinder sind ungemein hoch“, sagt er. „In anderen Ländern haben Kinder Zeit, sich zu entwickeln – wir hingegen machen Eintrittsexamen für den Kindergarten.“ (siehe Kasten oben)

Vom Hiki-Boy zum Hiki-Mann

Herrn Satous Hiki-Boy – heute ein Hiki-Mann – hat mehrfach versucht, geregelten Jobs nachzugehen. Länger als sechs Monate hat er es nie geschafft. Nun verbringt er die meiste Zeit in seinem Zimmer, liest, surft am Computer. Ein Psychologe darf ihn zu Hause besuchen. Satous Sohn wäscht sich mitunter stundenlang, die Eltern bauten daher ihre Wohnung in Nagoya um und richteten für ihn ein zweites Badezimmer ein. Drei bis viermal in der Woche verlässt er die Wohnung. „Oft in der Nacht, wenn er niemandem begegnet, den er kennt.“ Nie länger? „Doch, eine mehrtägige Reise nach Korea hat er unternommen.“ Herr Satou schüttelt den Kopf: „Mein Sohn kann nach Korea fahren, aber nicht ins Zentrum unserer Stadt. Ist das nicht merkwürdig?“ Obwohl er inzwischen begriffen hat, weshalb sich sein Sohn so verhält, scheint es ihn zu erschrecken, wenn er davon erzählt.

Die Krankheit seines Sohnes hat dem 70-jährigen Vater zugesetzt. Von sich aus redet er nicht darüber, aber sein bleiches Gesicht und die zitternden Hände deuten an: Herrn Satou geht es nicht gut. Seine ganze Familie leidet unter den gesellschaftlichen Auswirkungen von Hikikomori: „Weil wir ein Problemkind haben, ist es für unseren zweiten Sohn schwierig, eine Frau zu finden.“ In Japan sind penible Nachforschungen über die Lebensumstände des künftigen Ehemanns oder der Ehefrau verbreitet. Ein Hikikomori in der Familie wird als Belastung angesehen, denn nach dem Tod der Eltern müsste der zweite Sohn für seinen kranken Bruder finanziell aufkommen. Hinzu kommt der denkbar schlechte Ruf der Hikikomori. Die japanische Öffentlichkeit wurde in den vergangenen Monaten durch mehrere Tötungsdelikte aufgeschreckt: Hikikomori, die im Streit ihre Eltern umgebracht hatten.

Dennoch, Herr Satou resigniert nicht. In der Eltern-Selbsthilfegruppe betreut er das Gebiet Recherche. „Wir dürfen uns nicht verstecken. Wir Eltern müssen uns stärker vernetzen – in Japan und international.“ Der weit gereiste Ingenieur, der fließend Englisch und Spanisch spricht, tauscht sich per Mail mit Eltern in Korea, China, Frankreich, Dänemark und den USA aus (siehe Kasten links). Vor allem in Japan sei das wichtig, sagt er, weil die Behörden dazu neigten, das Problem unter den Tisch zu kehren, Hikikomori als „Familiengeschichten“ verniedlichen. Aus finanziellen Gründen, wie Satou vermutet: körperlich oder geistig Behinderte, auch psychisch Erkrankte würden in Japan unterstützt. Die Hikikomori aber seien ein Problem. „Wer will schon zugeben, dass es noch eine Million psychische Behinderte zusätzlich gibt.“

Akzeptanz und Vernetzung

Japans Gesundheitsministerium hat zwar Richtlinien erlassen, wie die Gemeinden mit Hikikomori umgehen sollen. Den Elterngruppen geht dies aber nicht weit genug. Therapien und Beratungsgespräche müssten durch die nationale Krankenversicherung gedeckt werden, fordern sie. Der Gründer der japanischen Elternvereinigung, Masahisa Okuyama, verlangt, dass sich die Regierung des Hikikomori-Problems stärker annimmt: „Wenn eine Million junge Leute mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben wollen, ist das mehr als ein familiäres Problem.“

Für einige der Mütter und Väter, die an diesem Sonntagnachmittag nach Tokio gefahren sind, bedeutet das Elterntreffen ein Art Coming-out. Tief versunken in ihre Stühle, schauen sie kaum auf. Der Psychiater am Rednerpult, Dr. Tamaki Saito, macht ihnen Mut. Rät dazu, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, und erzählt von Fällen in denen Hikikomori den Schritt nach draußen geschafft haben.

Zum Schluss der Veranstaltung treten sieben Musiker auf die Bühne – die Hikikomori-Band. Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren, die eine Therapie begonnen haben. „Sie spielen für die, die noch drinnen sind“, sagt ein Ansager. Applaus.