Er sah nicht hin

Präsident de Gaulle wusste 1966 genau, welchem Risiko er die Bevölkerung im Südpazifik durch die französischen Atomtests aussetzte. Aber es war ihm egal

aus PARIS DOROTHEA HAHN

„Geheim“ und „vertraulich“ ist auf die Militärdokumente gestempelt. Knapp zehn Jahre nach dem Ende der französischen Atomtests werfen sie ein Schlaglicht auf den Zynismus, mit dem Paris jahrzehntelang im Pazifik vorgegangen ist. Die Unterlagen, die der Lyoner Friedensforscher Bruno Barrillot veröffentlicht, zeigen vor allem zwei Dinge: Die französische Regierung war genau über die Strahlenrisiken informiert, denen sie die BewohnerInnen der Inselgruppen in Französisch-Polynesien aussetzte. Und: Die Regierung hat ganz bewusst darauf verzichtet, die Bevölkerung rechtzeitig vor einem nuklearen Fallout in Sicherheit zu bringen.

„Eine präventive Evakuierung der Bevölkerung der Gambier-Insel vor einem Test ist aus politischen und psychologischen Motiven ausgeschlossen“, heißt es wörtlich in einem vertraulichen Dokument aus dem Jahr 1966. Die Unterlagen aus dem Verteidigungsministerium gingen unter anderem an den Premierminister und an das CEA, das mächtige französische Atomkommissariat, dem sowohl die zivile als auch die militärische Nutzung der Kernspaltung unterstehen. Andere Geheimdokumente, die am Anfang desselben Jahres aus dem Südpazifik nach Paris geschickt wurden, prognostizieren, dass je nach Windrichtung die 500 Kilometer von der Bombenteststelle entfernte Insel Mangareva, die zur Gambiergruppe gehört, stark verstrahlt werden würde. Sie beschreiben, dass ein „großer Teil der knapp 570 InsulanerInnen „ältere Menschen und Kinder“ seien.

Ein Militärmediziner sagt in den Berichten klipp und klar voraus, dass schon ein geringer nuklearer Fallout über den Gambierinsel als „Unfall“ betrachtet werden und unbedingt zur Evakuierung der Bevölkerung führen müsse. Die militärischen Geheimdokumente sahen auch vor, dass Militärschiffe vor den Gambierinseln sich für eine solche Evakuierung bereithalten sollten.

Am 2. Juli 1966 ließ Frankreich den ersten Atompilz über dem Südpazifik in den Himmel wachsen. Der überirdische Test – Codename: „Aldébaran“ – in einer Lagune auf dem Mururoa-Atoll löste eine Wolke aus, die schnell die Gambierinseln erreichte. Während einer Stunde und 20 Minuten, so ist den militärischen Berichten zu entnehmen, die dem Test folgten, lag der Fallout über den Inseln extrem hoch. „Die Strahlung war 148 mal so hoch wie in der verbotenen Zone von Tschernobyl“, stellt Bruno Barillot vom „Centre de Documentation et de Recherche sur la Paix et les Conflits“ nach der Lektüre eines Teils der Dokumente fest, die er „per Post“ zugestellt bekommen hat (www.obsarm.org). Eine Evakuierung der Inselbevölkerung fand aber nicht statt.

Das französische Militärschiff „Coquille“ fuhr vier Tage nach dem Test die Insel Mangareva an, um dort Strahlenmessungen vorzunehmen. Die Ergebnisse gingen – wieder per Geheimdokument – nach Paris. Trinkwasser, Salat und andere Lebensmittel waren auch zu dem Zeitpunkt noch extrem strahlenbelastet. Sämtliche Werte lagen um ein Vielfaches über der damals international zulässigen Obergrenze an jährlicher Strahlenbelastung. Im Gemüse auf der Insel konnten die Militärs noch am 6. Juli eine 666-fach höhere Strahlenbelastung als in der Natur messen. Im „gewaschenen Salat“ fanden sie eine 185-mal höhere Belastung. Die InsulanerInnen erfuhren davon nichts. In einem Bericht des Militärarztes Million, der auf der „Coquille“ unterwegs war, heißt es: „Die tahitische Bevölkerung ist perfekt ahnungslos. Sie ist sorglos und zeigt nicht die geringste Neugierde.“

Knapp vier Jahrzehnte später ist das anders. Seit Dienstag dieser Woche verlangt die Vereinigung „Moruroa e tatou“ (Mururoa und wir) vom französischen Verteidigungsministerium die Offenlegung der Akten über die 193 französischen Atomtests im Pazifik, davon 46 überirdische, die noch immer den Stempel „secret“ tragen. „Wir wollen wissen, welchen Gefahren wir und unsere Nachfahren ausgesetzt sind“, sagt Roland Pouira Oldham, der Präsident der Vereinigung. Barrillot, der seit Jahren auf die Atomtests spezialisiert ist, hat eine ungewöhnliche Häufung von Strahlenkrankheiten wie Krebs bei Erwachsenen und von Missbildungen bei Kindern berichtet. Ein im Februar dieses Jahres veröffentlichter Bericht im European Journal of Nuclear Medicine and Molecular Imaging nennt eine „bedeutende“ Häufung von Schilddrüsenveränderungen bei den Insulanern.

Das Pariser Verteidigungsministerium bestreitet nicht die Authentizität der jetzt veröffentlichten Geheimdokumente. Aber zu einem Zwiegespräch im Sender „France 2“ mochte es gestern niemand entsenden. In einem schon am Mittwochabend – wenige Stunden nach Veröffentlichung der Geheimdokumente – eilig verschickten Kommuniqué heißt es lapidar, bei den Atomtests seien „die gültigen Regeln der Epoche“ eingehalten worden.