Zerreißen und neu starten

Hinweg mit dem alten Rockkanon, hier kommt der neue! Der britische Musikjournalist Simon Reynolds erzählt mit „Rip It Up And Start Again“ die Geschichte des Postpunk der Jahre 1978–84

Für eine kurze Zeit erhielt ein Haufen Irrer den Schlüssel zu den Top Of The Pops

VON TOBIAS RAPP

Es ist eine Schande. Man begebe sich einmal in eines der großen Londoner oder New Yorker Bücherkaufhäuser, es muss noch nicht einmal ein Szenebuchladen sein. Im vielfachen Dutzend stehen sie dort herum: Musikbücher, Bücher über Musik. Und die Rede ist nicht von den Regalmetern mit Dylan-Exegese, Bob-Marley- und Elvis-Biografien. Kaum ein Kapitel der Geschichte der populären Musik der vergangenen 50 Jahre, das hier nicht sorgfältig aufgearbeitet worden ist: die Geschichte von Disco in mehreren unterschiedlichen Büchern, die sich schier übertreffen in ihrem Bemühen, noch dem obskursten Unterphänomen gerecht zu werden. Zahllose Bücher über die verschiedenen Sonnensysteme der Rockgalaxie. Und Bücher über alles, was da an Imageproduktion, Geschlechterbildern, Sozialgeschichte und Medientheorie noch so dranhängt. Ein dicker Stapel HipHop-Geschichtsbücher, im Vierteljahresrhythmus kommt eines hinzu. Die Geschichte des Soul im halben Dutzend, Funk auch – für Jazz gibt es ein eigenes Regal. Und in Deutschland? Nichts.

Man mache einmal die Probe aufs Exempel und schaue sich in einem gut sortierten deutschen Buchladen um: Da gibt es ein paar Rocklexika, eine Eminem-Biografie und, wenn man Glück hat, noch die Taschenbuchausgabe von Ulf Poschardts „DJ Culture“ und Jürgen Teipels „Verschwende Deine Jugend“. Das war’s. Eine große Katastrophe. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen interessieren sich die Verlage des deutschsprachigen Raums einen Dreck für Popmusik. Ja, es gibt den Hannibal Verlag, der immer wieder interessante Biografien veröffentlicht. Es gibt den Ventil Verlag, der mit mehr Geld bestimmt auch noch bessere Bücher machen würde. Der Oreos Verlag hat eine Jazzreihe. Manchmal erscheint ein Büchlein bei KiWi oder im Verbrecher Verlag. Und es gibt die Suhrkamp-Bändchen, die irgendwie auch des Öfteren was mit Populärkultur zu tun haben, auch wenn sie sich meistens lesen wie Abwurfstellen für Philosophie-Hauptseminarsarbeiten. Das ist alles verdienstvoll, aber es ist erschreckend wenig.

Und was gäbe es nicht alles zu beschreiben! Es ist ja fast peinlich darauf hinzuweisen: Aber es gibt bis heute keine Geschichte des Krautrock (von dem Buch des Briten Julian Cope einmal abgesehen, das aber lange vergriffen ist und außerdem so sehr voller Fehler, das selbst der Verlag im Nachwort darauf hinweist, es sei nun mal aus einer Fanperspektive geschrieben, was es ja auch so sympathisch macht). Es gibt kein Buch über Giorgio Moroder und den Sound Of Munich der späten Siebziger und frühen Achtziger (wenn man von Michael Neumeisters „Gut Laut“ absieht, einem Roman allerdings, der das Thema auch nur streift).

Dass sich in Anbetracht dieser Lage jemals ein deutscher Verlag finden wird, Simon Reynolds großartiges Postpunk-Geschichtsbuch „Rip It Up And Start Again“ (Faber & Faber London, 580 Seiten, 16,99 Pfund) zu übersetzen, dürfte sehr unwahrscheinlich sein. Und das, obwohl es sich prima als großer Bruder von „Verschwende Deine Jugend“ machen würde. Die gleiche Ära wird beschrieben, die Jahre nach Punk, also die Zeit von 1978 bis 1984. Eine ähnliche Geschichte wird erzählt: Wie sich aus dem Geist des fröhlichen Dilettantismus unter Zuhilfenahme von viel Amphetaminen eine Szene herausbildet, die sich radikal gegen die Rituale des Rock definiert und oft an Ideen mehr Interesse hat als an Musik.

Eine Szene, in der viele am Ende den großen Pop wollen und auch bekommen, die aber gleichzeitig ein Netzwerk von unabhängigen Studios, Labels und Vertrieben hervorbringt. Einige gibt es heute noch, einige haben auch immer noch mit aufregender Musik zu tun. Nur der geografische Rahmen ist ein anderer: Simon Reynolds erzählt die Geschichte der britischen und US-amerikanischen Szene. Es ist eine Geschichte, die mit Johnny Rotten und seinem Ausspruch „Ever get the feeling you’ve been cheated“ auf dem letzten Sex-Pistols-Konzert im Januar 1978 beginnt und mit dem ganz ähnlich gelagerten Gefühl der Mitglieder von Frankie Goes To Hollywood endet, als sie sich 1984 aus den Fittichen ihres Produzenten Trevor Horn befreien.

Aufgeteilt in zwei große Abschnitte „Post Punk“ und „New Pop and New Rock“, ruft Reynolds sie in einem großen Panorama alle auf: Public Image Limited und die Buzzcocks, die New Yorker No Wave, Pop Group und Slits, Gang of Four, Joy Division, Wire und Talking Heads, The Fall und Throbbing Gristle, die Gruppen des Two Tone und des Postcard Labels, die Protagonisten des Popsommers von 1981, das SST-Label, Art Of Noise und Frankie Goes To Hollywood.

Befeuert von der Do-it-yourself-Ästhetik des Punk, aber ausgestattet mit dem Glauben an eine Zukunft, der sich Punk stets verweigerte, schrauben sie die Popmusik auseinander und setzen sie neu zusammen. Für eine Weile bekommt ein Haufen Durchgedrehter den Schlüssel zu den Top Of The Pops in ihre Hände, was auch seine tragikomischen Momente hat – da gibt es Howard Devoto von den Buzzcocks, der bei seiner Fernsehpremiere leichenweiß geschminkt stocksteif stehen bleibt, weil er glaubt, der einzige Weg dem ganzen Spektakel Bedeutung zu verleihen, sei sie komplett wegzulassen. Natürlich floppt seine Platte. Ganz ähnlich Wire, die sich 1979, kurz vor ihrem Durchbruch zum Superstardom, weigern eine Single mit einer Tour zu promoten und es sich stattdessen mit der Performance „Four People In A Room“, die man sich tatsächlich genauso vorstellen kann, mit ihrer Plattenfirma verderben. Eigentlich wollen sie eh lieber Videos machen, was die EMI für teuer und verrückt hält. Public Image Limited wollen ihr zweites Album partout in einer metallenen Filmrolle auf den Markt bringen – und verzichten dafür auf einen Großteil ihres Vorschusses.

Manchmal wünscht man sich bei der Lektüre ein wenig mehr von den diskursiven Überschlägen, wie man sie in „Energy Flash“, Reynolds Rave-Geschichtsbuch auf fast jeder Seite findet. Aber dafür ist „Rip It Up And Start Again“ dann wahrscheinlich schlicht zu gut recherchiert. 128 Interviews hat Reynolds geführt, da wird auf keinen Ölkanister gehauen, ohne dass drei Quellen bezeugen können, welche Farbe der Drumstick hatte. Umwerfend allerdings ist Reynolds Vermögen, sich sprachlich in die Materialität der Musik hineinzudenken: Er findet nicht nur immer Umschreibungen, er weiß auch, dass für den „monochromatische Minimalismus“ von Wires Album „Chairs Missing“, der den Gitarren ihren lebhaften Glanz floureszierenden Marmors verleiht, ein MX-R-Verzerrer verantwortlich ist.

Jenseits der Rekonstruktion einer vergangenen Epoche verfolgt Reynolds mit „Rip It Up And Start Again“ aber auch eine ganz zeitgenössische Agenda: publizistisch nachzuvollziehen, was in der Produktion aktueller Popmusik schon längst geschehen ist, den alten Rockkanon von seinem Sockel zu stoßen nämlich. Denn auch wenn sich heute kaum noch eine Band auf die Rolling Stones bezieht – in der Liste der wichtigsten Platten aller Zeiten einer Zeitschrift wie Rolling Stone sind sie immer noch achtmal enthalten, neben sieben Dylan-Alben. Was nach 1980 erschienen ist, wird dort noch immer nur mit spitzen Fingern angefasst. There’s a Kulturkampf going on: Nach der musikalischen heißt es nun endlich auch die symbolische Anziehungskraft der Babyboomerbands zu brechen. Oder anders formuliert: die Jahre von 1978 bis 1984 sind mindestens so reich und vielfältig wie jene von 1964 bis 1969. Fresst das endlich und sterbt.

Doch sollten sich die Mitglieder dieser ganzen Gruppen, die monatlich als Rettung des Rock oder Pop durch das globale Dorf gejagt werden, hinter die Ohren schreiben: Sie mögen sich zwar auf die Musik des Postpunk beziehen, mit dessen Haltung haben sie nichts zu tun. Damals ging es darum, nach vorn zu schauen, etwas neu und anders zu machen. Doch so sehr (und so gut auch manchmal) Bloc Party, Interpol, The Rapture, Franz Ferdinand und wie sie alle heißen aus den Elementen des Postpunk eine neue Popmusik zusammenbauen: Sie bleiben retro. Und das waren ihre Vorbilder nie.